# taz.de -- Arabische Revolution und soziale Netzwerke: "Da ist noch gar nichts… | |
> Den Begriff des "Arabischen Frühlings" mag Jean-Pierre Filiu gar nicht. | |
> Der französische Wissenschaftler spricht lieber von einer transnationalen | |
> Jugendbewegung. | |
Bild: Soziale Netzwerke haben die Räder der Arabischen Revolution geschmiert. | |
taz: Herr Filiu, Sie sagen, soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter | |
haben nur die Rädchen der Arabischen Revolution geschmiert. | |
Jean-Paul Filiu: Genau. In Tunesien wie Ägypten wurde die Revolution durch | |
die Satelliten-TV-Kanäle verstärkt, vor allem von al-Dschasiras arabischen | |
und englischen Programmen. Das haben dann auch die westlichen Sender | |
übernommen. In Tunesien haben auch YouTube, Blogs und Seiten wie Flickr die | |
Proteste für ausländische Medien sichtbar gemacht: Als in Tunesien Ben Alis | |
Regime die Satellitenkommunikation stilllegte, konnte al-Dschasira über die | |
Handys der Grassroot-Reporter trotzdem weiter berichten. Das Gleiche ist | |
auch in Ägypten passiert, auf dem Tahrirplatz gab es einen großen Monitor, | |
auf dem live al-Dschasira lief. | |
Sie sprechen auch von der Entstehung einer arabischen Öffentlichkeit … | |
Diese Öffentlichkeit war und ist entscheidend für die revolutionäre | |
Dynamik, die immer noch anhält. Sie wird aus den panarabischen | |
Satellitenkanälen, aus den sozialen Netzwerken und aus dem Internet | |
gespeist. Auf al-Dschasira und al-Arabia sprechen Araber zu Arabern, von | |
Marokko bis hin zum Persischen Golf. Dieses Forum reicht aber auch tief in | |
die Diaspora, die bei der Revolution auch eine Rolle gespielt hat. | |
Ist diese medial vermittelte Öffentlichkeit mit dem vergleichbar, was wir | |
im Westen kennen? | |
Diese Medien sind in einer ganz anderen Art und Weise öffentlich. In | |
Internetcafés geht man nicht bloß online, sie sind auch Treffpunkte, und | |
auch die arabischen Satellitenkanäle werden nicht nur zu Hause, sondern | |
gemeinsam an der Universität, in Restaurants und Cafés geschaut. Am | |
sichtbarsten wurde das an den großen TV-Monitoren auf dem Tahrirplatz und | |
in Bengasi. | |
Welche Rolle spielt diese Öffentlichkeit jetzt, wo die Revolution bereits | |
wieder vorbei ist? | |
Stopp, da ist noch gar nichts vorbei. Diese Revolutionen fangen gerade erst | |
an, in Jemen, Syrien, Libyen und anderswo. Die kritischen Punkte sind doch | |
nirgendwo gelöst. Deshalb mag ich auch das Gerede vom "Arabischen Frühling" | |
nicht, das wird noch viele Jahreszeiten und Jahre lang dauern. Aber der | |
Begriff "Arabische Revolution" trifft es besser als der Plural - denn es | |
geht um ein und dasselbe Phänomen, auch wenn es natürlich vom Atlantik bis | |
zum Persischen Golf viele Unterschiede gibt. | |
Auch wenn es sich um "eine" Revolution handelt, ist es aber keine | |
panarabische Revolution. Es ist eher eine transnationale Jugendbewegung, | |
ähnlich der 1968. Ich sehe darin eine zweite arabische Renaissance, die der | |
so genannten Nahda folgt, die im 19. Jahrhundert begann. | |
Aber die Situation in Ländern, wo die Diktaturen gestürzt wurden, ist doch | |
anders als zum Beispiel in Syrien. Dort entstehen neue Medien und neue | |
nationale Diskurse … | |
Es gibt eine Dialektik zwischen dem "Nationalen" und dem "Arabischen", | |
sozusagen einen Wettbewerb der Erhebungen. Die Ägypter sahen, was in | |
Tunesien los war, und sagten: "Das können wir auch und sogar besser!" Und | |
in Syrien sagen sie jetzt, wenn Tunesien und Libyen es geschafft haben, | |
schaffen wir das auch. Es sind immer dieselben Slogans und Programme, die | |
dann übersetzt und national adaptiert werden. Im Libanon soll ein | |
konfessionelles Regime gestürzt werden, in Jordanien will man es | |
reformieren. | |
Sprechen wir über al-Dschasira: Der Sender gehört dem Emir von Katar. Auch | |
der zweitwichtigste arabische Kanal al-Arabia aus Dubai gehört saudischen | |
Investoren mit Verbindungen zum Königshaus. Die beiden Kanäle haben eine | |
Art Duopol in der arabischen Welt - aber sind absolut nicht unabhängig. Ist | |
das ein Problem? | |
Natürlich bedient al-Dschasira eine Agenda. Dass die Regierung den Aufstand | |
im Nachbaremirat Bahrain niederschlagen ließ, wurde kaum berichtet. Das war | |
schockierend - und ein Rückschritt für den Sender. Er wurde heftig | |
kritisiert und hat in der ganzen arabischen Welt an Ansehen und Vertrauen | |
eingebüßt. Es rechnet sich also nicht, wenn man den Vorgaben seines Patrons | |
zu sehr folgt. Trotzdem sind beide Sender immer noch relativ autonom und | |
haben auf ihre Weise viel zur Revolution beigetragen. | |
Die arabischen Nachrichtenkanäle bereiten sich auf die Konkurrenz mit | |
neuen, von westlichen Medienkonzernen finanzierten Sendern vor: Prinz Walid | |
bin Talal, ein saudischer Milliardär, plant zusammen mit Bloomberg "Alarab | |
TV". BskyB startet Sky Arabia, Partner ist hier die von einem Mitglied der | |
Königsfamilie kontrollierte Abu Dhabi Media Investment. Der | |
Satelliten-TV-Markt ist doch schon heute sehr lebendig: Da gibt es den | |
französischen Kanal France 24 und BBC Arabic Television. Al-Hurra wird von | |
der US-Regierung finanziert, von den chinesischen, russischen und | |
iranischen Kanälen ganz zu schweigen. Und alle senden auf Arabisch. | |
Wie steht es nun um unabhängige Medien in Ländern wie Ägypten und Tunesien? | |
Weil die Social-Media-Netzwerke innerhalb weniger Stunden gewissermaßen | |
"auf Sendung" waren, gab es von Anfang an eine unabhängige | |
Berichterstattung. Außerdem gab es in beiden Ländern schon vor der | |
Revolution unabhängige Zeitungen. Interessant ist, dass die Revolution | |
jetzt in den privaten und auch in den Regierungsmedien weitergeht, so wie | |
es 1968 auch in Frankreich der Fall war. Journalistenausschüsse in den | |
Medienunternehmen stellen kollektiv ihre Führung und das gesamte Personal | |
auf den Prüfstand - manchmal müssen die alten Leitungsebenen gehen, | |
manchmal nicht. | |
Nehmen Sie die tunesische Presse, die war früher unerträglich. Heute ist | |
sie sehr lebendig, obwohl das überwiegend noch dieselben Leute sind. Doch | |
jetzt schreiben sie selbst, während sie früher nur die Verlautbarungen des | |
Informationsministeriums abgedruckt haben. | |
Wie kann der Westen unabhängige, kritische Medien in der arabischen Welt am | |
besten unterstützen? | |
Natürlich ist der Transfer von Know-how und Technik wichtig. Noch wichtiger | |
ist aber, diesen Leuten auf Augenhöhe zu begegnen. Sie haben beweisen, dass | |
sie mutig und gleichzeitig professionell sind. Arabische Medien haben schon | |
über die sich abzeichnenden Aufstände berichtet, lange bevor die westlichen | |
Journalisten und ihre "Fixer" auftauchten. Sie verdienen unseren Respekt: | |
Es geht um ihre Länder, sie haben für ihre Freiheit gekämpft, viele sind | |
sogar dafür gestorben. Wir können viel von ihnen lernen. | |
Übersetzung: Steffen Grimberg | |
24 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Paul Hockenos | |
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