| # taz.de -- Debatte Scharia und Arabischer Frühling: Eine westliche Fehlinterp… | |
| > Die Scharia ist ein vielfältig auslegbares Normenbündel – für und auch | |
| > gegen mehr Demokratie. Islamistische Parteien sind nicht per se eine | |
| > Gefahr für den Arabischen Frühling. | |
| Bild: Alles so schön bunt hier: Wahlveranstaltung der Muslimbrüder in Ägypte… | |
| Ist alle Hoffnung vergebens, wenn in Libyen Gesetze im Widerspruch zur | |
| Scharia fortan nichtig sein sollen? In fast allen Verfassungen der | |
| arabisch-islamischen Welt wird auf die Scharia als Prüfmaßstab für das | |
| Recht verwiesen. In Libyen ist das Familien- und Erbrecht schon lange von | |
| Schariagrundsätzen geprägt. Also: Was genau ist die Scharia? | |
| In der westlichen Debatte, auch unter manchen Muslimen, wird sie meist als | |
| Gegensatz zu demokratischer Rechtsstaatlichkeit gesehen. Das ist jedoch | |
| weniger als die Hälfte der Wahrheit. In einem weiten Verständnis, das viele | |
| Muslime haben, beinhaltet die Scharia das gesamte, höchst komplexe und | |
| flexible System islamischer religiöser und rechtlicher Normen und deren | |
| Interpretation. | |
| Sie beinhaltet religiöse Ritualvorschriften wie Gebet und Fasten ebenso wie | |
| Rechtsnormen. Die Rechtsregeln sind maßgeblich von den Umständen von Zeit | |
| und Ort abhängig und entsprechend interpretationsbedürftig – bei der | |
| Scharia handelt es sich also um alles andere als ein Gesetzbuch, in dem | |
| alle Paragrafen in Stein gemeißelt sind. | |
| Manches, aber bei Weitem nicht alles steht in krassem Gegensatz zu den | |
| Menschenrechten, etwa drakonische Körperstrafen oder die Ungleichbehandlung | |
| der Geschlechter und Religionen, wie sie auch in Europa über lange Zeit | |
| herrschten. Die in Libyen angekündigte Einführung eines islamorientierten | |
| Finanzsektors ist dagegen völlig unspektakulär. Das Spekulationsverbot des | |
| islamischen Rechts findet sogar Lob im Osservatore Romano – die | |
| Tageszeitung des Vatikans dürfte über jeden Islamismusverdacht erhaben | |
| sein. | |
| Gegenwärtig stehen demokratiefeindliche und menschenrechtswidrige | |
| Umsetzungen wie in Saudi-Arabien oder dem Iran anderen Interpretationen | |
| entgegen, die Demokratie und Menschenrechtsschutz eben aus der Scharia | |
| heraus begründen möchten. In Tunesien hat man so 1956 die Polygamie | |
| verboten, indem die widersprüchlichen koranischen Aussagen hierzu neu | |
| gelesen wurden. Marokko hat 2004 immerhin die Zustimmung der Erstfrau | |
| verpflichtend gemacht. | |
| In Libyen soll die schon bestehende Möglichkeit polygamer Ehen erleichtert | |
| werden, indem das Zustimmungserfordernis der Erstfrau entfällt – ein | |
| (umstrittener) Rückschritt als Zugeständnis an islamistische Richtungen. | |
| Wohin also könnte die Reise in Nordafrika gehen? Das weiß im Moment niemand | |
| genau. | |
| Islamisch orientierte Parteien erhalten bei demokratischen Wahlen breiten | |
| Zuspruch. Ihre Attraktivität gerade in Armenvierteln und auf dem Land | |
| beziehen sie vor allem aus sozialem Engagement und dem seltenen Ruf, nicht | |
| korrupt zu sein. Politische Konflikte entwickeln sich zwischen stark | |
| säkular und religiös ausgerichteten Parteien, vor allem aber zwischen | |
| extremistisch-intoleranten Religiösen wie den Salafiten einerseits und | |
| demokratiewilligen, rechtsstaatsorientierten Religiösen andererseits. | |
| ## Türkische AKP als Vorbild | |
| So kann die "Scharia" auch den Einsatz gegen Folter, Korruption und | |
| staatliche Willkür gegen BürgerInnen begründen. Die Partei der ägyptischen | |
| Muslimbrüder (HHA) setzt Scharia in ihrem Programm mit Demokratie gleich, | |
| im Gegensatz zu Gottesstaat und Militärherrschaft. Das steht zunächst nur | |
| auf dem Papier. | |
| Andererseits: Die großen religiösen Parteien Nordafrikas nehmen sich heute | |
| die türkische AKP zum Vorbild. Diese wiederum hat während ihrer | |
| Regierungszeit trotz mancher Rückschritte in jüngster Zeit weit mehr für | |
| den Menschenrechtsschutz getan als die angeblich laizistisch-moderaten | |
| Kemalisten in Jahrzehnten. Sie sieht sich heute als eine Art "islamische | |
| CDU". | |
| Nicht zuletzt verbirgt sich hier ein sozialer Konflikt – säkulare | |
| Hauptstadtelite gegen aufstrebendes, religiös gesinntes Kleinbürgertum und | |
| Arme. Es waren scheinmoderate Diktaturen, die ihre geflissentlich | |
| übersehenen Menschenrechtsverstöße mit der Angst vor den Religiösen | |
| begründet haben. Die demokratischen Rechtsstaaten dieser Welt haben durch | |
| jahrzehntelanges Paktieren viel an Glaubwürdigkeit verspielt. Deshalb | |
| können tragfähige Reformen nur von innen kommen. Guter Rat von außen hilft | |
| nur, wenn er erbeten wird. | |
| Gegenwärtig spricht vieles für breite Übereinstimmung, demokratische | |
| Mechanismen und Freiheitsrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit und Schutz | |
| gegen staatliche Willkür durch die (auch in Ägypten) immer noch | |
| herrschenden repressiven Regime zu etablieren. Auch die Verbesserung der | |
| sozialen Lage der vielen Armen, von Kinderrechten, Bildungszugang etc. | |
| steht auf der Agenda. | |
| ## Zweifelhafte Perspektiven im Privatrecht | |
| Zweifelhafter ist die Perspektive für Frauen im Privatrecht und die Rolle | |
| der Religion im öffentlichen Raum. Immerhin wollen auch die tunesischen | |
| Wahlsieger nach eigenen Aussagen die vergleichsweise weitreichenden | |
| Frauenrechte nicht antasten. Weitere Fortschritte zeichnen sich aber noch | |
| nicht ab. Religionskritik nach europäischen Maßstäben dürfte weiterhin | |
| unmöglich, jedenfalls gefährlich bleiben. | |
| Bemerkenswert aber auch hier: Die ägyptische Muslimbrüder-Partei hat einen | |
| christlichen Vizepräsidenten. Im Programm wird der Beitrag der Christen zum | |
| gemeinsamen Wertefundament des Landes hervorgehoben – das ist neu und weit | |
| mehr als die traditionelle bloße Duldung. Zudem: In Ägypten sind die | |
| Menschen nicht als Religiöse, sondern schlicht als ÄgypterInnen auf die | |
| Straße gegangen. | |
| Wer aber über die Grenzen liberalsäkularer Eliten hinaus in die breite | |
| Bevölkerung hineinwirken will, wird sich ohne Bezugnahme auf islamische | |
| Kultur und Scharia schwertun. Muslimische Vorkämpfer der Menschenrechte wie | |
| Schirin Ebadi oder Nasr Hamid Abu Zaid befürworten deshalb eine kulturelle | |
| Übersetzung der Menschenrechte in die herrschende Denktradition, die sie | |
| als etwas "Eigenes" erfahrbar machen. | |
| Die Klimakatastrophe, die dem Arabischen Frühling tatsächlich droht, ist | |
| nicht die Scharia per se, sondern weitere Destabilisierung im | |
| wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Hier kann Europa über wohlfeilen Rat | |
| hinaus wirksam helfen: Durch Öffnung von Märkten hier und nachhaltige | |
| Investitionen vor Ort. | |
| 7 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Rohe | |
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