# taz.de -- Islamistische Partei Ennahda: Tunesiens einzige Volkspartei | |
> Gute Organisation, ein prominenter Anführer und ein moderates Auftreten: | |
> Das sind die Zutaten, mit der die Ennahda die erste freie Wahl in | |
> Tunesien gewann. | |
Bild: Rached Ghannouchi zeigt sich siegessicher nach Abgabe seines Stimmzettels. | |
TUNIS taz | Rachid Ghannouchi ist für seine Anhänger irgendetwas zwischen | |
weisem Großvater und Popstar. Egal wo der 70-jährige Führer der | |
islamistischen Partei "Ennahda" (Wiedergeburt) auftaucht, wird er umringt | |
und bejubelt. Im Wahlkampf füllte er ganze Fußballstadien. | |
Ghannouchi ist der letzte weithin bekannte Gegner des am 14. Januar 2011 | |
gestürzten Diktators Ben Ali, der nach 23 Jahren autoritärer Macht noch | |
übrig ist. Dies ist jetzt seiner Partei zugutegekommen. | |
Sie hat besser als jede andere Gruppierung die Revolution der tunesischen | |
Jugend für sich vereinnahmt, obwohl sie zum Beginn des Aufstandes ebenso | |
wenig eine Rolle gespielt hatte wie alle anderen vorhandenen politischen | |
Kräfte. | |
Auf der Bühne bei Ennahda-Veranstaltungen waren immer gleich viele Frauen | |
wie Männer, jung wie alt. Das tunesische Wahlgesetz verlangt die | |
Geschlechterparität in den Wahllisten. Ennahda hat dies mitgetragen. In | |
keinem arabischen Land sind die Frauen so selbstbewusst wie in Tunesien. | |
Das gilt auch für Ennahda selbst. | |
Die Helden der Partei sind ausnahmslos bärtige Herren meist | |
fortgeschrittenen Alters. 1981 riefen Ghannouchi und die Seinigen im | |
universitären Umfeld die "Bewegung Islamischer Tendenz" und dann Ennahda | |
ins Leben. | |
Sie haben dafür teuer bezahlt. Hunderte wanderten für lange Jahre hinter | |
Gitter oder flohen wie Ghannouchi ins Exil. Im Wahlkampf wurden die | |
Haftjahre immer besonders hervorgehoben. Da wird ein führendes Mitglied, | |
das 18 Jahre abgesessen hat, auch schon mal zum "Nelson Mandela Tunesiens". | |
## Immer gewaltfrei | |
Ghannouchi, Sohn eines Imams, nahm sich ursprünglich die Muslimbrüder | |
Ägyptens zum Vorbild. Doch seine Bewegung setzte trotz der Unterdrückung | |
nie auf Gewalt. Zwar schwärmt Ghannouchi bis heute von der Islamischen | |
Heilsfront (FIS) in Algerien, die 1992 durch einen Militärputsch um ihren | |
Wahlsieg gebracht wurde und in den Krieg zog. | |
Er lernte die FIS 1990 kennen, als er mit Frau und sechs Kindern nach | |
Algerien floh. Aber 1992 ging der Tunesier nicht in den Untergrund, sondern | |
nach London. | |
In seinem Häuschen in einem Londoner Vorort empfing er gerne internationale | |
Gäste. "Warum soll es keine Islamisch-Demokratische Partei geben? Ihr habt | |
doch auch Christdemokraten", sagte er dort 1999 der taz. Nach dem 11. | |
September 2001 räumte er den USA ein "Recht auf Selbstverteidigung" ein und | |
verurteilte "das konservative Islamverständnis al-Qaidas". In TV-Interviews | |
im In- und Ausland lehnen Ennahda-Führer heute stets einen Gottesstaat ab. | |
Die Türkei unter der AKP Erdogans gilt ihnen als Vorbild, es gibt rege | |
Kontakte zur Schwesterpartei. Legalisiert wurde Ennahda in Tunesien am 1. | |
März 2011, sechs Wochen nach dem Sturz Ben Alis. Anders als die restliche | |
Opposition starten die Islamisten mit guten Strukturen in die neue Ära. | |
## Verfolgt und eingesperrt | |
Eine Million Sympathisanten und Mitglieder will die Partei nach eigenen | |
Angaben haben. Bereits in den achtziger Jahren, als die Verfolgung | |
einsetzte und tausende Regimegegner hinter Gitter wanderten, hatte sich die | |
Bewegung in Stadtteilen und Dörfern ausgebreitet und sich um die | |
Angehörigen der Verhafteten gekümmert. | |
Ennahda hatte 2005 mit der Kommunistischen Arbeiterpartei und der | |
Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) ein Bündnis gegen die Diktatur | |
geschlossen. Den Wahlkampf freilich hat dies nicht überlebt. Die PDP machte | |
gegen die Islamisten Stimmung, Ennahda griff das Thema geschickt auf. "Das | |
sind Eliteparteien, Ennahda ist die Partei des Volkes", hieß es jetzt. Es | |
hat funktioniert. | |
26 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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