# taz.de -- Wahlergebnisse in Tunesien: Ausschreitungen in Sidi Bouzid | |
> Die umstrittene Ennahda-Partei bekam laut vorläufigem Endergebnis mehr | |
> als 40 Prozent der Wählerstimmen. In Sidi Bouzid gab es unterdessen | |
> gewaltsame Ausschreitungen. | |
Bild: Rachid Ghannouchi feiert mit seinen Anhängern. | |
TUNIS dpa | Die islamistische Ennahda-Partei hat mit riesigem Vorsprung die | |
ersten freien Wahlen in Tunesien gewonnen. Die Partei um Spitzenpolitiker | |
Rachid Ghannouchi bekommt nach dem vorläufigen Endergebnis 90 von 217 | |
Sitzen in der verfassungsgebenden Versammlung. Unter dem im Januar | |
gestürzten Langzeitherrscher Zine el Abidine Ben Ali galt die Ennahda | |
(Wiedergeburt) noch als extremistisch und war verboten. | |
Überschattet wurde die Bekanntgabe des Wahlergebnisses von gewalttätigen | |
Ausschreitungen in der ehemaligen Revolutionshochburg Sidi Bouzid. Hunderte | |
Menschen lieferten sich nach Augenzeugenberichten Straßenschlachten mit der | |
Polizei und der Armee, nachdem die Wahlkommission sechs Kandidatenlisten | |
des reichen Geschäftsmannes und Besitzers eines TV-Senders Hechmi Haamdi | |
für ungültig erklärt hatte. | |
Mehrere Gebäude, darunter das örtliche Parteibüro der Ennahda sowie das | |
Gebäude der Regionalverwaltung, sollen in Brand gesetzt worden sein. Die | |
Polizei setzte Tränengas ein. Über mögliche Verletzte gab es zunächst keine | |
Angaben. | |
Hintergrund der Listenausschlüsse waren nach Angaben der obersten | |
Wahlaufsichtsinstanz vor allem Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung der | |
Partei Al Aridha. Mit 19 Sitzen in der Versammlung gilt die | |
nationalistische Bewegung aber dennoch als die große Überraschung der | |
Wahlen. | |
## Mitte-Links-Partei auf Platz 2 | |
Zweitstärkste Partei nach der Ennahda wurde die Mitte-Links-Partei | |
"Kongress für die Republik" (CPR) unter Führung des Medizinprofessors | |
Moncef Marzouki mit 30 Sitzen, teilte die Wahlkommission am Donnerstagabend | |
in Tunis mit. Auf Platz drei landete die sozialdemokratische Partei | |
Ettakatol mit 21 Sitzen. Sie führt nach eigenen Angaben bereits Gespräche | |
mit der Ennahda über die Bildung einer neuen Übergangsregierung. Parteichef | |
Mustapha Ben Jaâfar gilt als möglicher neuer Übergangspräsident. | |
Ein Ennahda-Sprecher sagte, man werde Kontakt zu allen anderen politischen | |
Parteien suchen. Ziel sei eine Regierung der nationalen Einheit. Für den | |
Posten des Regierungschefs brachte sich bereits der Generalsekretär der | |
Ennahda-Bewegung, Hammadi Jébali, ins Spiel. | |
Liberale Tunesier fürchten im Falle einer islamistischen Regierung einen | |
für sie dramatischen Wandel des Landes - bis hin zu Kopftuchzwang und | |
Alkoholverbot. Konkrete Hinweise auf drohende Einschnitte der Bürger- und | |
Freiheitsrechte gibt es bislang allerdings nicht. Im Wahlkampf verkaufte | |
sich die Ennahda-Bewegung als moderne Partei nach dem Vorbild der | |
türkischen AKP. Die für die arabische Welt äußert ausgeprägten Frauenrechte | |
sollen nicht angetastet werden. | |
Neun Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Ben Ali waren am | |
vergangenen Sonntag rund sieben Millionen Tunesier aufgerufen, den | |
Grundstein für eine demokratische Zukunft ihres Landes zu legen. Die 217 | |
Mitglieder einer verfassungsgebenden Versammlung sollen in den kommenden | |
zwölf Monaten ein Grundgesetz erarbeiten. Es wird erwartet, dass sie zudem | |
einen neuen Übergangspräsidenten bestimmen. | |
28 Oct 2011 | |
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