| # taz.de -- Siegesfeier in Bengasi: „Ihr könnt wieder vier Frauen heiraten!�… | |
| > Bei der offiziellen Siegesfeier in Bengasi sind viele westliche | |
| > Ehrengäste da. Aus Deutschland ist niemand eingeladen. Der Übergangsrat | |
| > dankt Gott und den Müttern. | |
| Bild: Die vergangenen Tage waren ein rauschendes Fest in Libyen. | |
| BENGASI taz | Die letzten Tage in Libyen waren ein rauschendes Fest im | |
| ganzen Land, und das ohne Unterbrechung. Am Sonntag wird in Bengasi | |
| offiziell die Befreiung Libyens verkündet. Mit Plastikblumen und anderem | |
| orientalischen Kitsch geschmückt ist die Bühne auf dem großen Platz in | |
| Bengasi. Die Haupttribüne ist den Mitgliedern des Nationalen Übergangsrats | |
| (NTC) vorbehalten, von denen die wichtigsten sich in große Ledersessel | |
| fallen lassen, die weniger prominenten hingegen mit Stühlen vorlieb nehmen | |
| müssen. | |
| Auf der linken Seitentribüne sitzen die westlichen Ehrengäste, Vertreter | |
| der Europäischen Kommission, ein Nato-Militär, der französische Botschafter | |
| aus Tripolis und Chris Stevens, der US-amerikanische Gesandte in Libyen. | |
| Aus Deutschland ist niemand eingeladen. Stevens wurde genau in der Mitte | |
| der ersten Reihe platziert. Das neue Libyen liebt Amerika, und die | |
| Amerikaner lieben die libysche „Revolution“. Die meisten NTC-Mitglieder | |
| kamen im März direkt aus ihrem US-amerikanischen Exil nach Bengasi. | |
| Trotzdem ist Stevens von mehr als zehn Leibwächtern umgeben, die den hinter | |
| ihm sitzenden Ehrengästen die Sicht auf den Platz versperren. Auffallend | |
| ist, dass niemand der westlichen Ehrengäste einen Übersetzer neben sich | |
| sitzen hat. Auf die Frage, ob er denn fließend Libysch-Arabisch spreche und | |
| die Reden verstehe, entgegnet der US-amerikanische Botschafter, er dürfe | |
| ohne Genehmigung des Außenministeriums nicht mit Vertretern der Presse | |
| sprechen. | |
| Nach längerem Insistieren, einige seiner Leibwächter legen schon Hand an | |
| den Reporter an, lässt er sich doch zu einigen allgemeinen nichtssagenden | |
| Sätzen wie „Dies ist ein historischer Tag für Libyen. Jetzt beginnt ein | |
| neues Kapitel in der Geschichte des libyschen Volkes“ hinreißen. Danach | |
| fragt er grinsend: „Na, wie war das? Sind das nicht gute Zitate für Sie?“ | |
| ## Die ersten Blüten des Frühlings | |
| Auf der rechten Tribüne sind zahlreiche arabische und libysche Ehrengäste | |
| platziert, Vertreter der Konfessionen und Botschafter der Mitgliedsstaaten | |
| der Arabischen Liga. Aschraf Schiha, der ägyptische Botschafter, sieht | |
| wirklich glücklich aus. Er sagt mit strahlenden Augen: „Ich habe von so | |
| einem Tag nicht zu träumen gewagt. An einem einzigen Tag finden | |
| gleichzeitig die ersten freien Wahlen in einem arabischen Land, in | |
| Tunesien, statt und zugleich wird Libyen nach 42 Jahren Diktatur befreit. | |
| Der Arabische Frühling trägt seine ersten Blüten.“ | |
| Als Mustafa Abdul Dschalil auf der Bühne seine lang erwartete Rede mit den | |
| Worten „Im Namen Gottes“ beginnt, wird es zum ersten Mal an diesem Tag | |
| still auf dem Platz. Zuvor hatte ein Einpeitscher zehnmal hintereinander | |
| „Gott ist groß!“ in das Mikrofon gerufen und Hunderttausende brüllten | |
| ebenso oft „Gott ist groß!“ zurück. Doch nun spricht Scheich Mustafa Abdul | |
| Dschalil, ein bürgerlicher, gottesfürchtiger Mann. Er spricht leise und | |
| langsam, so wie er immer spricht. Keiner, der seine Stimme erheben muss, | |
| damit die Leute ihm zuhören. Trotzdem ist Dschalil ein großer, starker, | |
| charismatischer Führer, der die Massen durch seine Rhetorik verführen kann. | |
| Er gedenkt zunächst des ermordeten Generals Abdel Fatah Junis, der während | |
| der Revolution einem Attentat zum Opfer fiel. Das Bild des Märtyrers Junis | |
| prangt überall in Bengasi auf großen Tafeln, auf denen früher Reklame für | |
| eine Limonadenmarke oder neue Telefone hing. Dann dankt Dschalil den | |
| Müttern der Gefangenen im Gefängnis Abu Salim, die durch ihren Protest am | |
| 17. Februar in Bengasi den Stein der Revolution ins Rollen brachten. | |
| Die Menschen klatschen und rufen „Danke Mütter“. Dann dankt Dschalil allen | |
| libyschen Geschäftsleuten, die durch ihre Spenden den Kauf von Waffen | |
| ermöglichten. Darauf sagt Dschalil endlich den Satz, auf den alle warten: | |
| „Dies ist der Tag der Befreiung Libyens!“ | |
| ## Zinsen werden verboten | |
| Schüsse fallen, die Sirenen der Krankenwagen und Polizeiautos heulen, | |
| Luftballons steigen in den Abendhimmel. Die Menschen rufen: „Seid erhobenen | |
| Hauptes, Libyen ist jetzt frei!“ Die Inszenierung ist perfekt. Der Sender | |
| al-Dschasira, der diese „Revolution“ von Anfang an pushte, bekommt | |
| wunderbare Bilder. | |
| Von nun an handelt Dschalils Rede nur noch vom Islam! Dschalil sagt: „Für | |
| uns als islamisches Land sind die Regeln des Islams der einzige Maßstab für | |
| die Schaffung und Gestaltung des neuen Libyens. Gesetze, die nicht im | |
| Einklang mit dem Koran stehen, wird es bei uns nicht geben.“ Die Menschen | |
| jubeln und rufen: „Ya Allah!“ | |
| Dschalil verkündet: „Männer, ihr könnt wieder vier Frauen heiraten! Denn so | |
| steht es im Koran, dem Buch Gottes. Ihr könnt beruhigt nach Hause gehen, | |
| denn ihr müsst nicht eure erste Frau um Erlaubnis fragen.“ Die libyschen | |
| Männer jubeln. Unter Gaddafi war es ihnen nicht erlaubt, mehr als eine Frau | |
| zu heiraten. | |
| Dschalil kündigt außerdem die Eröffnung islamischer Banken an und verbietet | |
| mit sofortiger Wirkung Zinsen. Er fordert die Menschen auf: „Weigert euch | |
| ab sofort, den Banken Zinsen zu zahlen. Zinsen verstoßen gegen den Islam.“ | |
| Die Menschen jubeln erneut und rufen: „Er ist der wahre Führer.“ | |
| ## „Wir dürfen keine Rache üben“ | |
| Dschalil stimmt auch Worte des Friedens an: „Wir Libyer müssen uns | |
| versöhnen, dürfen uns nicht hassen. Wir müssen zusammenstehen, eine Einheit | |
| bilden und dürfen keine Rache üben.“ Nachdem er der Erdbebenopfer in der | |
| Türkei gedacht sowie der Familie des verstorbene Kronprinzen von | |
| Saudi-Arabien sein Beileid ausgesprochen hat, verleiht er der Hoffnung für | |
| die Völker des Jemens und Syriens Ausdruck, dass auch sie das erreichen | |
| mögen, was die Libyer geschafft haben. Er schließt mit den Worten: „Ich | |
| vertraue euch allen, dass wir mit euch eine gemeinsame gute Zukunft für | |
| unser Land erreichen.“ | |
| Nach seiner Rede hat Dschalil es schwer, den Festplatz zu verlassen. Seinem | |
| Pulk an Leibwächtern stellen sich immer wieder unerschrockene Libyer in den | |
| Weg, die ihn berühren, ein Handyfoto mit ihm haben möchten. Auch die | |
| Wagenkolonnen anderer NTC-Mitglieder haben Mühe, sich einen Weg durch die | |
| Massen, die auch hinter der Bühne und in den umliegenden Straßen feiern, zu | |
| bahnen. | |
| Gegen 19 Uhr schließlich bricht der Verkehr komplett zusammen, alle Autos | |
| stehen still, Menschen steigen aus und feiern unter Brücken und auf den | |
| Straßen weiter. Im Himmel über Bengasi zünden Feuerwerkskörper. | |
| Die Euphorie wird kaum von wenigen skeptischen Stimmen gestört. Ein Mann, | |
| der namentlich nicht genannt werden möchte und in Gaddafis | |
| Sicherheitspolizei diente, beobachtet die Feierlichkeiten distanziert neben | |
| seinem Hauseingang. Er sagt: „Ich bestreite nicht, dass es unter Gaddafi | |
| viele Probleme gab. Aber ich bezweifle, dass unter dem NTC alles besser | |
| wird. In ein paar Jahren werden wir sehen, ob die Straßen des neuen Libyens | |
| weniger oder mehr Schlaglöcher haben werden.“ | |
| 24 Oct 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Lejeune | |
| ## TAGS | |
| Türkei | |
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