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# taz.de -- Debatte Libyen: Rein faschistisches Denken
> Der Staat Gaddafis war nie ein Bollwerk gegen den Islamismus. Im
> Gegenteil: Beide bauen auf eine Ideologie, die Freiheit, Vernunft und
> Aufklärung ablehnt.
Bild: "Revolution" heißt es in dem Graffiti in Kairos Innenstadt.
Operettenuniform, über und über mit Orden bedeckt, Schärpe, Kragenspiegel,
Mütze mit riesigem Wappen, dazu Sonnenbrille und wallende Mähne. Oder:
schillerndes Gewand, Seidenkappe, Bambusstock beziehungsweise Fliegenwedel.
Das sind die Bilder, die sich mit Muammar al-Gaddafi verbinden, Bilder, die
so gut wie jedem im Gedächtnis sind und die auch wieder anlässlich seines
Todes in den Medien abgerufen werden. Charakteristischer für den
Verstorbenen ist vielleicht ein unbekannteres aus dem Jahr 1969.
Ein junger Mann, gekleidet in ein schlichtes, schnörkelloses Hemd, steht
neben einem alten im Zweireiher mit weißem Haar, Brille und Krawatte. Die
beiden halten sich an den Händen, lächeln sich an wie ein Liebespaar. Der
eine, Muammar al-Gaddafi, steht am Anfang seiner Karriere, hat soeben die
morsche libysche Monarchie hinweggeputscht. Der andere ist am Ende: Jacques
Benoist-Méchin.
Der Exminister und Generalsekretär der französischen Vichy-Regierung, die
von 1940 bis 1944 mit den Nazis kollaborierte, hatte sich im reifen Alter
von seinem ersten Lebensthema, dem deutschen Idealismus, ab- und seinem
zweiten, dem Orient zugewandt. Als Siebzigjähriger reiste er in der
arabischen Welt herum, suchte den Kontakt zu starken Männern und fand in
ihren autoritären Herrschaftsformen das wieder, was er in Europa
verschüttet sah: Zucht, Ordnung, starke Visionen, traditionsverhaftetes
Leben und Denken, etwa dieses:
"Eine Frau, die sich selber dadurch umbringt, dass sie keine Kinder
empfängt, keine Kinder austrägt oder ihnen nicht die Brust gibt, stellt
sich in den Zusammenhang einer Kette, die gegen die Natur des Lebens
gerichtet ist, eine Natur, die für sie durch Heirat, Empfängnis, Stillen
und Mutterschaft geprägt ist. Wenn man die natürliche Rolle der Frau als
Mutter außer Kraft setzt, ihre Rolle durch Kindergärten übernehmen lässt,
verändert man die menschliche Gesellschaft in eine bloß noch biologisch
geprägte. […] Kinder von ihren Müttern zu trennen, um sie in Kindergärten
zu geben, ist fast gleichbedeutend damit, sie wie Hühner zu behandeln", so
heißt es in Gaddafis Grünem Buch.
Das passt gut zu dem anderen Mann auf dem Foto und zu Vichy-Frankreich, für
dessen Faschisierung sich Benoist-Méchin als Minister einsetzte: weg von
der degenerierten, materialistischen Demokratie, die Männer und Frauen
ihrer natürlichen Rollen entwöhnt hat, um so am Ende die Eroberung
Frankreichs von einer stärkeren Nation, der deutschen, zu verschulden.
## Vichys Vorzeigeintellektueller
"Um sein geistiges und organisches Gleichgewicht zu bewahren, muss der
Mensch sich seine innere Regel auferlegen. Der Staat kann dem Menschen mit
Gewalt ein gesetzestreues Verhalten aufzwingen, aber nicht ein
moralgetreues. […] Die römisch-katholische Kirche hat in ihrem tiefen
Verständnis für psychologische Dinge den moralischen Energien einen viel
höheren Platz eingeräumt als den intellektuellen", so Alexis Carrel, der
Vorzeigeintellektuelle im Vichy-Staat.
Und: "Jede Nation sollte eine Religion haben, um als Nation existieren zu
können. Alles andere ist abnormal. Es gibt keine andere Lösung, um Harmonie
in der Gesellschaft herzustellen, als die Einheitsreligion", so Gaddafi.
Die Fixierung auf den Körper der Frau, auf ihre biologischen Funktionen,
auf die Unveränderlichkeit ihrer Rolle, die daraus abgeleitete
Unveränderbarkeit der angestammten Ordnung, die Religion als Mittel zum
Zweck - das alles prägt die Gesellschaftsentwürfe des europäischen
Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso wie der Griff
zur Religion, um die Gesellschaft zusammenzukitten, ihr ein "höheres"
Prinzip einzuimpfen, damit die Bevölkerung bereit ist, für den Führer und
Repräsentanten dieses Prinzips zu sterben.
Gaddafis Denken steht in dieser Tradition, es ist rein faschistisch; kommt
religiös daher, hat aber mit dem Islam wenig zu tun, dafür sehr viel mit
den Schriften erzkonservativer Europäer der 1920er und 30er Jahre.
Das verbindet Gaddafi übrigens mit vielen Vordenkern des Islamismus. Nicht
umsonst wurde der französische Faschist und Arzt Alexis Carrel zu einem der
wichtigsten Bezugsgrößen für Sayyid Qutb, der das moderne Konzept des
Dschihad entwickelte. Insofern war Gaddafis Anspruch absurd: Sein System
sei eine Art Bollwerk gegen den Islamismus und seine Gegner seien
Islamisten. Jene Islamisten, die es unter den neuen Kräften Libyens gibt,
sind zwar gegen Gaddafi gewesen, aber strukturell hat ihr Denken viel mit
dem des toten Diktators zu tun: Beide richten sich gegen die Freiheit, die
menschliche Vernunft, die Aufklärung.
## Nichts Progressives
In solche Gedankenwelten etwas Progressives hineinzugeheimnissen, wie es
europäische Beobachter immer wieder taten, indem sie das Grüne Buch mit
einer Art Mao-Bibel gleichsetzten, sagt viel über die Beobachter aus - und
wenig über Gaddafi. Bis zuletzt erschien nicht wenigen Libyen als eine
Insel der Seligen im Maghreb: Afrikas höchstes Pro-Kopf-Einkommen,
flächendeckende Bildung eine Analphabetenrate von nur 17,6 Prozent.
Doch aus der Statistik geht nicht hervor, was eigentlich in den
Bildungseinrichtungen vermittelt wurde und in welcher Qualität. Um sein
Land gegen äußere Einflüsse abzuschotten, ließ Gaddafi schon in den 1970er
Jahren den Fremdsprachenunterricht an allgemeinbildenden Schulen
abschaffen. Zum Studium ins Ausland durfte nur, wer aus eine
"zuverlässigen" westlibyschen Region stammte.
Dass es im Übergangsrat heftige Flügelkämpfe geben dürfte, ist so gut wie
sicher. Dass Islamisten eine Rolle spielen dürften, ebenfalls. Dass
westliche Staaten die libysche Revolution nicht aus Idealismus, sondern aus
egoistischen, aus wirtschaftlichen und strategischen Motiven heraus
unterstützen, während die Arabellion in Ländern wie Saudi Arabien oder
Bahrain ihnen weniger opportun ist, ist ebenfalls ein offenes Geheimnis.
Dies alles soll nicht den Blick nach vorne trüben: auf eine Gesellschaft,
die abgehalftertes Denken überwindet und sich im geistigen Sinn
entkolonisiert - als Vorbedingung für echten Antikolonialismus.
24 Oct 2011
## AUTOREN
Marc Thörner
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