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# taz.de -- Deutsche Debattenkultur: Antimilitaristen im Abseits
> Wer nicht konsenskonform denkt und trotzdem seine Meinung laut sagt,
> gerät rasch unter Beschuss. Eine offene Debattenkultur sieht anders aus.
Bild: Friedensdemonstration in Frankfurt/Main am 1. Oktober
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist es schwierig, abweichende
Meinungen öffentlich zu vertreten. „Putintroll“ ist das gängige
Schimpfwort, gemeint sind schlicht Leute, die sich für Frieden und
Diplomatie einsetzen. Objekte des Zorns sind dabei weniger notorische
Dissidentinnen wie die seit Jahren als mediale Watschenfrau fungierende
Linke Sahra Wagenknecht.
Das Bashing von Personen, denen oft zugleich die fachliche Eignung
abgesprochen wird, trifft vor allem Sozialdemokraten – weil sie das Erbe
von Willy Brandt und Egon Bahr hochhalten. Die einstigen Architekten der
Ostpolitik waren stets für eine Versöhnung mit dem von den
Nationalsozialisten überfallenen Russland eingetreten, sie haben dabei viel
erreicht und mittelbar auch zur deutschen Vereinigung beigetragen.
Schon während der Pandemie machte sich ein intolerantes Diskussionsklima in
Deutschland breit, das in der Verunglimpfung der Unterzeichner von
[1][„allesdichtmachen“] einen Höhepunkt fand. So stieß der Schauspieler
Jan-Josef Liefers auf massive Empörung, weil er wie rund 50 seiner
Kolleg:innen die deutsche Coronapolitik ironisch kritisiert hatte.
Für die Onlinevideos musst er sich in inquisitorisch geführten Interviews
rechtfertigen, in Talkshows gegen drei oder vier weitere Gäste antreten,
die sich untereinander und mit der Moderation einig waren. Die mediale
Front, die Zweifelnde weitgehend ausgrenzte, war erschreckend genug. Noch
extremer war die Reaktion des SPD-Politikers und früheren
nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers [2][Garrelt Duin].
Liefers dürfte nicht länger beim [3][„Tatort“] mitspielen, sein Engagement
sei sofort zu beenden, verlangte Duin, der Mitglied im WDR-Rundfunkrat ist.
Das ging selbst dem damaligen CDU-Ministerpräsidenten Armin Laschet zu
weit. Der Künstler bekam seinen Vertrag verlängert, bis heute mimt er den
skurrilen Münsteraner Rechtsmediziner Karl-Friedrich Börne.
## Lange Liste von Abgekanzelten
Während die Affäre für Liefers noch glimpflich ausging, sind neben
Politikern zurzeit auch Hochschullehrerinnen, Publizisten oder
Kirchenfunktionäre heftigsten Vorwürfen ausgesetzt. Teils grenzen diese
Kampagnen an Rufmord und gefährden berufliche Existenzen. Um ihren Job
fürchten muss zum Beispiel [4][Ulrike Guérot], die seit Herbst 2021
Europapolitik an der Universität Bonn lehrt. Früher CDU-Mitglied, stuft
sich die Professorin heute als „linksliberal“ ein, eckt aber gerade in
diesem Milieu am meisten an.
In einem umstrittenen, zum Teil tatsächlich verschwörungstheoretisch
anmutenden Buch kritisiert sie die Coronamaßnahmen. In ihrer jüngsten
Publikation „Endspiel Europa“ plädiert sie dafür, die Schuld für den Kri…
nicht allein bei Russland zu suchen, bewertet die Nato-Erweiterung als
Fehler und Provokation. In Leitmedien wie der Frankfurter Allgemeinen oder
in Internetportalen wie t-online.de zweifeln Osteuropa-Experten Guérots
wissenschaftliche Kompetenz an.
Auch die Leitung und der AStA der Bonner Uni haben sich unterdessen von ihr
distanziert. Ähnlich unter Druck geraten ist [5][Gabriele Krone-Schmalz],
die lange für die ARD aus Moskau berichtet hat und in journalistischen
Kreisen als fundierte Kennerin Russlands gilt. Ihr Vortrag an der
Volkshochschule Reutlingen ging im Netz mit fast einer Million Aufrufen
viral. Nicht nur die Referentin, auch der gastgebende VHS-Chef wurden
heftig angegangen.
Die Entspannungsbemühungen der 1970er Jahre in der Rückschau positiv zu
bewerten, auf russische Sicherheitsinteressen und Ängste hinzuweisen oder
diese gar in Verbindung zu bringen mit den Naziverbrechen in der
Sowjetunion: Das grenzt in einer aufgeheizten Stimmung, die bisweilen an
den Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 erinnert, für manche schon an
Landesverrat.
Die Liste der öffentlich Abgekanzelten ist lang: Emma-Herausgeberin Alice
Schwarzer, die Ende April einen offenen Brief initiierte, der Kanzler Olaf
Scholz gegen den Vorwurf des „Zauderns“ bei Waffenlieferungen in Schutz
nahm. Die Autoren Richard David Precht und Harald Welzer, die in ihrem
Bestseller „Die vierte Gewalt“ die Rolle der Medien hinterfragen, nicht nur
aus aktuellem Anlass.
## Zweierlei Maß bei der Causa Schröder
Hamburgs Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der in einem noch vor dem
Krieg abgeschlossenen Buch für die Verfolgung „nationaler Interessen“ und
gegen eine zu starke Abhängigkeit von den USA Position bezieht. Und erst
recht Altkanzler Gerhard Schröder, dem zu viel Nähe zum russischen
Präsidenten und seine Tätigkeit als Lobbyist für Gaskonzerne angekreidet
werden. Vor allem Letzteres ist in der Tat äußerst fragwürdig.
Schröder deshalb die früheren Amtsträgern zugesicherten Privilegien im
Bundestag streichen zu wollen, diese aber bei anderen einst politisch
Verantwortlichen wie Angela Merkel oder Christian Wulff nicht anzutasten,
dürfte juristisch kaum haltbar sein. Denn hier wird mit zweierlei Maß
gemessen. Unbequeme politische Stimmen sollen zum Schweigen gebracht
werden.
Wesentlich beteiligt an dieser [6][Cancel Culture] in Kriegszeiten ist auch
die ukrainische Propaganda, die sich nicht wesentlich von der russischen
unterscheidet. Selbst gemäßigt auftretenden Politikern, wie
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, macht man in Kiew den Vorwurf,
Desinformationen zu verbreiten. Der Dauertwitterer und mittlerweile
abgesetzte, weil untragbar gewordene Botschafter in Deutschland [7][Andrij
Melnyk] überzog Andersdenkende mit polemischen Vorwürfen und verbalen
Tiefschlägen.
Zuletzt, obwohl schon in die Heimat zurückbeordert, traf sein
undiplomatischer Furor die Synode der Evangelischen Kirche, die er als
„Diener von Judas“ bezeichnete. Die dort Versammelten hatten es gewagt,
sich nicht klar vom christlichen Pazifismus abzuwenden. Sie regten einen
Waffenstillstand an und forderten, „das Gespräch nicht zu verachten“. Das
reicht offenbar, um sich den Vorwurf einzuhandeln, ein „Putintroll“ zu
sein.
22 Nov 2022
## LINKS
[1] /Aktion-allesdichtmachen-im-Netz/!5763320
[2] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/streit-um-allesdichtmachen-wd…
[3] https://www.youtube.com/watch?v=hxK0OUOnZiI
[4] https://www.youtube.com/watch?v=jk-boUZmh0Y
[5] https://www.t-online.de/region/koeln/id_100081080/ukraine-expertin-franzisk…
[6] /Soziales-Phaenomen-Cancel-Culture/!5704221
[7] /Ukrainischer-Botschafter-Melnyk/!5862395
## AUTOREN
Thomas Gesterkamp
## TAGS
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