| # taz.de -- Israels Wahldebakel: Die Sünden des David Ben-Gurion | |
| > Das israelische Wahlergebnis ist auch Ergebnis sozialistischer | |
| > Beschwichtigungspolitik. Religiöse Fanatiker ernten die süßen Früchte. | |
| Bild: 23.06.1967: David Ben Gurion in der Negev-Wüste | |
| Bei diesen Wahlen hat die Linke eine schwere Niederlage erlitten, von der | |
| sie sich vielleicht nie mehr erholen wird. [1][Meretz], die einzige Partei, | |
| die sich eindeutig als links definiert – außer den Kommunisten – scheiterte | |
| an der Sperrklausel und droht, von der politischen Landkarte zu | |
| verschwinden. Die sich abzeichnende Koalition von Benjamin Netanjahu ist | |
| offen rassistisch. | |
| Sie stützt sich auf fanatische, fundamentalistisch-religiöse Parteien, die | |
| Liberalismus und Demokratie zutiefst ablehnen und die das Rechtssystem | |
| zerstören wollen. Um zu verstehen, wie das passieren konnte, tut ein Blick | |
| in die Vergangenheit Not. Der Hauptschuldige ist [2][David Ben-Gurion]. | |
| Israels erster Regierungschef pries das, was er als „Staatlichkeit“ | |
| bezeichnete, und unterband Strömungen, die seiner Meinung nach die | |
| Staatlichkeit bedrohten. | |
| So entschied er bereits in den 1950er Jahren, das unabhängige | |
| Bildungssystem der Arbeiterpartei einzustellen. Damit verlor die | |
| sozialistische Bewegung die Möglichkeit, die eigenen Werte an die Jugend | |
| weiterzugeben. Dem entgegen rührte Ben-Gurion das unabhängige orthodoxe | |
| Bildungssystem nicht an. | |
| Die ultraorthodoxen Rabbiner durften ungehindert hunderttausende Schüler | |
| nach den eigenen fanatisch-religiösen Vorstellungen erziehen und so eine | |
| riesige Öffentlichkeit schaffen, die die von Ben-Gurion als so wichtig | |
| empfundene Staatlichkeit komplett ablehnten. Zusätzlich befreite Ben-Gurion | |
| die orthodoxen Staatsbürger von der [3][Wehrpflicht]. So wuchs eine | |
| Bevölkerung, die sich faktisch wie ein Staat im Staate verhielt, eine | |
| Gesellschaft innerhalb einer Gesellschaft. | |
| Unter der Regierung von Menachem Begin und später auch unter Netanjahu | |
| gesellte sich der Sektor der verbitterten, frustrierten Juden dazu, deren | |
| Familien aus muslimischen Ländern nach Israel eingewandert waren und die | |
| sich nicht mit den bis in die 1970er Jahre vorherrschenden Werten der | |
| Moderne und der Säkularität identifizierten. | |
| ## Fataler Faktor Demografie | |
| Erschwerend kommt die demografische Entwicklung hinzu. Die religiöse, | |
| konservative und ärmere Bevölkerung wächst deutlich schneller als die | |
| säkulare, liberale und etablierte. All das macht sich an den Wahlurnen | |
| bemerkbar. Demokratie kann bisweilen eine fürchterliche Angelegenheit sein. | |
| Parallel zum ständigen Erstarken der religiösen Rechten, die immer | |
| radikaler wird, dümpelt die Linke seit Jahrzehnten unentschlossen vor sich | |
| hin. Das fängt an mit der „warmen Ecke“, die den Orthodoxen im Herzen von | |
| Ben-Gurion vorbehalten war, setzt sich fort mit der seltsamen Sympathie, | |
| die Chefs der Arbeitspartei, darunter auch [4][Schimon Peres], für die | |
| Siedlerbewegung empfanden, und endet mit den Versuchen des noch amtierenden | |
| Regierungschefs Jair Lapid, sich als Rechter in Szene zu setzen. | |
| Im Wahlkampf war nahezu keine klare linke Stimme zu hören. Keine | |
| kompromisslose. Zappelnd, sich entschuldigend, stotternd bläst Israels | |
| Linke die eigene Seele aus. Die letzten der Linken sind im Schockzustand | |
| und tiefer Trauer. Viele werden sich in den kommenden Jahren auf den Weg | |
| nach Berlin machen. Viele mehr wären längst unterwegs, würden die | |
| Immobilienpreise dort nicht so drastisch steigen. | |
| Was bleibt? Israel wird nicht mehr „die einzige Demokratie im Nahen Osten“ | |
| sein, wie Netanjahu gern betont, sondern eher eine Theokratie mit | |
| diktatorischen Zügen. Wird Deutschland für Israel trotzdem weiter die Carte | |
| blanche bereithalten? Tatsache ist wohl, dass sich die künftigen Machthaber | |
| in Jerusalem ohnehin von Kritik aus dem Ausland kaum beeindrucken lassen | |
| würden. Einzig effektiv wäre, Israels Linke zu unterstützen. Wenigstens | |
| das, was davon noch übrig ist. | |
| 4 Nov 2022 | |
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| Hagai Dagan | |
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