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# taz.de -- Schuhe und Scham: Vom richtigen Umgang mit der Scham
> Um mit der Jugend ins Gespräch zu kommen, mag man es mit weißen
> Turnschuhen versuchen. Für den Ethikrat ist das auch eine Frage der
> Ästhetik.
Bild: Schuhe, schamlos weiß
Kürzlich ging ich im Nieselregen durch die Fußgängerzone, als ich auf den
Ethikrat traf. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer
Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der
Ratsvorsitzende stand auf einer Leiter und versuchte, ein großes weißes
Pappteil auf zwei Pappsäulen zu stecken, die ihm die beiden anderen
Ratsmitglieder entgegenhielten. „Guten Tag“, sagte ich, „bauen Sie einen
Stand auf?“ „Wir bemühen uns hier um eine Nachempfindung der Agora“, sag…
der Ratsvorsitzende.
„Nun“, sagte ich und betrachte die schwankenden Pappsäulen, „wenn man es
weiß, erkennt man es unbedingt. Und wozu sind die Turnschuhe gut?“ Ich
deutete auf ein Bündel lehmverkrusteter Schuhe, die zu Füßen der Agora
lagen. „Wir suchen den Kontakt zur Jugend“, sagte der Ratsvorsitzende
heiter. „Da lag es nahe, [1][über ästhetische Fragen ins Gespräch zu
kommen].“ Er deutete auf ein Pappschild, auf dem in krakeliger Schrift
stand: „5 Wege zum megaweißen Schuhwerk“, auf einem Tisch daneben standen
Zahnpastatuben, Puderdosen und Bürsten.
„Ich habe mich schon immer gefragt, wie die Leute ihre Turnschuhe so weiß
hinbekommen“, sagte ich und sah zu, wie die beiden anderen Ratsmitglieder
versuchten, weitere Säulen aufzurichten. „Sie sind herzlich eingeladen,
unsere Gespräche zu verfolgen“, sagte der Ratsvorsitzende und wies auf
einen Klappstuhl neben sich.
Es dämmerte, die Passanten gingen achtlos an der Agora vorüber. Die
Ratsmitglieder rückten die Tische mit dem Reinigungswerkzeug nach vorne,
aber niemand blieb stehen. Schließlich sagte ich, um irgendwas zu sagen:
„Ob ich Ihnen noch eine Frage vorlegen könnte?“, und fuhr fort:
„[2][Kürzlich las ich bei Epiktet]“ – mir war es gelungen, fünf Seiten …
der S-Bahn durchzulesen –, „dass man sich nur um das kümmern solle, was in
der eigenen Gewalt liegt. Und das täte das äußere Ansehen und die
gesellschaftliche Position nicht.
## Die Agora fiel in sich zusammen
Aber ist es nicht das Credo heutzutage, dass man sich das alles erarbeiten
kann? Dass aus mir eine Großjournalistin hätte werden können, wenn ich
härter an mir gearbeitet hätte …“ „Megaweißes Schuhwerk“, unterbrach…
eine meckernde Teenagerstimme. „Die sind ja total lost!“ Andere
Teenagerstimmen kicherten und ich sah, wie ein sehr weißer Turnschuh einer
der Säulen einen Tritt gab. Die Agora fiel in sich zusammen.
Es war sonderbar, auch das stoische Selbstvertrauen des Ethikrats schien
heute instabil. Der Vorsitzende kauerte sich auf seinem Klappstuhl
zusammen, die beiden anderen Ratsmitglieder drängten sich neben ihn.
Ich dachte an eine Lesung, zu der ich kürzlich eingeladen war. Sie war
schlecht besucht, und während die anderen Autorinnen und ich lasen,
verließen ein paar der wenigen Gäste den Raum. „Ich muss den Ethikrat
fragen, warum Scham stechender als Traurigkeit sein kann“, dachte ich
damals, während die Sitze der Weggehenden laut hochklappten. „Es ist doch
nur ein sozial bedingtes Gefühl und philosophisch betrachtet ein
Anfängerfehler, es sollte nicht so tief gehen.“
Ich betrachtete den Ethikrat, der wie eine sehr kleine Schafherde wirkte,
die vom Gewitter überrascht wird. Man konnte ihm vieles vorwerfen, aber er
beschämte seine Schülerschaft nicht. Ich kramte nach meinem Reclam-Heft.
„Sicher ist Ihnen folgendes bekannt“, sagte ich und las: „Tut dir dein
Bruder Unrecht, so fasse die Sache nicht von der Seite an, daß er Unrecht
tue, denn diese ihre Handhabe ist nicht zum Tragen bestimmt, sondern
vielmehr von der Seite, daß er dein Bruder und mit dir aufgezogen sei.“
Aber dann ergriff ich eine der Säulen und beeilte mich, den Teenagerhaufen
zu erreichen.
6 Nov 2022
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## AUTOREN
Friederike Gräff
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