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# taz.de -- Die Wahrheit: Hochbetagt in gemütlichen Hosen
> Die Spanien-Woche der Wahrheit (2): Das lebhafte Spanien entdeckt endlich
> seine älteste und phlegmatischste Minderheit.
Bild: Das Nickerchen ist dieser ausgeschlafenen Vandalin besonders heilig
Diese Woche widmet sich die Wahrheit in all seinen großen und kleinen
Aspekten Spanien. Denn das ehrwürdig hitzige Spanien ist in diesem Jahr
Gastland der am Mittwoch beginnenden Frankfurter Buchmesse.
Hält man sich an Madrids Puerta de Alcalá in südwestlicher Richtung, läuft
schnurgerade stadtauswärts und lässt die Sierra de Gredos linker Hand
hinter sich, wird man nach einigen Tagesmärschen auf eine Weggabelung an
einem Mühlenstumpf stoßen. Dort geht es rechts zum Gasthof der Familie
Zamorro, die derart hervorragende Kutteln in Rotwein serviert, dass seit
Menschengedenken niemand die linke Abzweigung genommen hat.
Wohl auch deshalb sind Spaniens letzte Vandalen im Dorf Bandílo
jahrhundertelang unter sich geblieben. Immerhin ist die schmale
Schotterstraße zur Linken die einzige Verbindung zur Außenwelt dieser
Ethnie, von der seit der Spätantike niemand mehr gehört hatte.
Am Vorabend der Völkerwanderung hatten die als sensibel verrufenen Barbaren
das zunehmend grobschlächtige Germanien verlassen, um sich zur
Sommerfrische am Mittelmeer niederzulassen, doch die teutonischen Nachbarn
reisten einfach hinterher. Von nörgelnden West- und rüpelhaften Ostgoten
von Spaniens ölreichen Buffets verdrängt, schifften sich die allermeisten
Vandalen weiter ins damals pauschaltouristenfreie Nordafrika ein und
gründeten einige Königreiche, die nach Ansicht der Wissenschaft an
Geruhsamkeit eingingen. Danach meldeten sich die Vandalen ordnungsgemäß aus
der Weltgeschichte ab und taten keinen Mucks mehr.
## Barbarische Abendruhe
„Wir dachten lange, die Gegend sei unbewohnt“, klärt uns Anthropologin
Estefania Gonzaga y Zarzuela über die Heimstatt der letzten spanischen
Vandalen auf und lauscht in die Stille, die keine lärmende Fiesta je
durchbrach. Denn der Vandale geht gern früh zu Bett, dafür steht er später
auf.
Der Spanierin Estefania ist die barbarische Abendruhe unheimlich. Sie hupt
immerzu, während sie uns ins verschlafene Dorf der Vandalen fährt. „Bandílo
ist der spanische Name“, weiß Gonzaga y Zarzuela zu berichten. „In ihrer
Sprache heißt der Ort ‚Fahren Sie weiter, edler Fremder, hier gibt es
nichts zu sehen.‘“
Übertroffen wird die Zurückhaltung dieses ehrwürdigen alten Volks nur von
ihrem Willen zur Beschaulichkeit. Das merken wir, als uns Dorfvorsteher Don
Hugo mit Wurstbroten (für ihn selber) und einem Gedicht in vandalischer
Sprache (für uns) empfängt. „Möge die Kuhle Ihres Sofas eine tiefe sein“,
fasst der Dorfschulze das Poem zusammen. Natürlich trägt Don Hugo auch
einen vandalischen Namen, übersetzt bedeutet er „Der in seinen Hausschuhen
wohnt“.
## Missverstandene Lebensweise
Wie alle modernen Vandalen spricht der rundliche Mittsechziger perfekt
Spanisch, aber viel weniger davon als ein Muttersprachler. Im Alltag
kommuniziert Hugo lieber in einem komplexen System wohliger Seufzer,
während die vandalische Hochsprache der Lyrik und der Ankündigung von
Mittagsschläfchen vorbehalten ist.
Kurze Zeit später sitzen wir in warmen Filzpantinen und weit geschnittenen
Beinkleidern im Wohnzimmer Don Hugos und werden mit den Grundzügen des
Vandalismus vertraut gemacht, einer unterkomplexen, aber zutiefst
missverstandenen Lebensweise. Die Vandalen leben in einer schwer
harmoniesüchtigen Konsensgesellschaft mit Mindestverzehr und beten drei
Hauptgötter an: die gemütliche Hose, das ungestörte Nickerchen und das
leckere Butterbrot. Als subalterne Gottheiten erkennen sie außerdem
Käsekuchen sowie den Feierabend an. Der Rest ist ihnen reichlich wurscht,
wofür ihre Sprache über 1.700 Ausdrücke kennt.
## Überschaubares Tagewerk
Während sich andere Minderheiten Iberiens wie Katalanen, Basken oder
Galizier lautstark bemerkbar machten, um sich gegen die kastilische
Übermacht zu behaupten, gingen die Vandalen achselzuckend ihrem
überschaubaren Tagewerk nach.
Sogar die mächtige Inquisition musste sich dem undurchdringlichen Phlegma
der Vandalen ergeben. „Vor einigen Jahrhunderten waren ein paar Herren zum
Plaudern hier“, erinnert sich Don Hugo und führt uns zu einem verwitterten
Grab. Offenbar hatten die Gottesmänner den vandalischen Glauben angenommen
und sind hochbetagt in gemütlichen Hosen bei einem Stück Käsekuchen
verstorben.
## Lyrikerin beim Bummeln
Allein der Beharrlichkeit der Anthropologin Gonzaga y Zarzuela ist es zu
verdanken, dass die beinahe lautlose Kultur endlich Gehör findet. In Madrid
soll bald das erste vandalische Kulturzentrum eröffnen, man wartet
allerdings noch immer auf das Eintreffen der Leiterin Doña Alma aus
Bandílo. Wir treffen die Lyrikerin vor dem einzigen Laden des Dorfes beim
Schaufensterbummel, der den Vandalen als heilige Pflicht gilt.
Bereitwillig gibt uns die bedeutendste Vertreterin der traditionellen
Trödelversdichtung eine Kostprobe. „Reflexionen beim Betrachten meiner
Fußnägel“, lautet der Titel ihres neuen Versepos, das uns nach wenigen
Strophen in somnambule Gleichmütigkeit schickt. Im letzten wachen Moment
gelingt es uns, aus dem vandalischen Windschatten der Geschichte zu treten
und Bandílo fluchtartig zu verlassen. Wir folgen der schmalen
Schotterstraße, bis uns an der Gabelung wieder hispanische Geschäftigkeit
und der Duft von Kutteln umfängt.
18 Oct 2022
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Ethnologie
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Klima
Kolumne Die Wahrheit
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Thriller
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