# taz.de -- Grüne Spitzenkandidatin in Niedersachsen: Die Ministerpräsidenten… | |
> Julia Willie Hamburg hat sich den Respekt in Niedersachsens Politik hart | |
> erarbeitet. Jetzt buhlen zwei Kandidaten um eine Koalition mit ihren | |
> Grünen. | |
Bild: Merkelhaft unglamourös: Julia Willie Hamburg | |
HANNOVER taz | Irgendwann macht sie tatsächlich die Raute: Bei einer dieser | |
Podiumsdiskussionen unter Spitzenkandidaten, wo sie mal wieder allein unter | |
deutlich älteren Herren ist. Das ist eine Seite an Julia Willie Hamburg, | |
der grünen Spitzenkandidatin, die viele übersehen: Manchmal hat sie etwas | |
Merkelhaftes. Wenn sie stocknüchtern doziert, in Themenfeldern, auf denen | |
[1][sie sich auskennt, Kitas oder Schulen] zum Beispiel, und sagt: „Lassen | |
Sie uns doch einfach mal bei den Fakten bleiben.“ | |
Oder in ihrer Art, lieber nicht zu viel Aufhebens um die eigene Person zu | |
machen. Auch in ihren Nehmerqualitäten: Wenn sie etwa bei der Bäcker-Demo | |
in Hannover stoisch blinzelnd auf der Bühne stehen bleibt und weiterredet, | |
während sie minutenlang ausgebuht wird – bis es selbst dem Organisator | |
unangenehm wird. | |
## Großgeworden mit „Atomkraft? Nein, danke.“ | |
Man übersieht das vielleicht, wenn man immer nur hört, wie sie als | |
Oppositionsführerin im Landtag oder bei den Wahlkampfauftritten die großen | |
Attacken reitet – mit Handkantenschlägen durch die Luft und vorwurfsvoll | |
gespitztem Zeigefinger. | |
Natürlich weiß sie als erklärte Linke genau, wo das grüne Herz schlägt. Mit | |
„Atomkraft? Nein, danke“ ist sie groß geworden und rückt davon nicht ab; | |
sie läuft selbstverständlich [2][bei jedem CSD] mit, kümmerte sich lange um | |
Familien, Kitas, Bildungspolitik. | |
Doch hinter den Kulissen sagt man ihr auch einen ausgeprägten Sinn fürs | |
Machbare nach und die Fähigkeit, kluge Kompromisse auszuhandeln. Sie hat | |
sich damit selbst beim politischen Gegner Respekt erworben und ist längst | |
dem Label entwachsen, das ihr anfangs immer umhängte: „jüngste | |
Landesvorsitzende/Landtagsabgeordnete/Fraktionsvorsitzende“ (in genau | |
dieser Reihenfolge). Aber mit 36 Jahren gilt man auch nur noch in der | |
Politik als jung. | |
Anders als beispielsweise Bernd Althusmann (CDU) argumentiert sie nicht | |
ganz so gern und offensiv mit ihren zwei Kindern oder den Herausforderungen | |
in der privaten Pflege – möglicherweise ahnt sie, dass das bei einer jungen | |
Frau anders gewertet wird als bei einem 55-jährigen Mann. | |
Und dann tut sie es doch: Wenn ihr jemand damit kommt, dass es ihr an | |
Lebens- und Berufserfahrung fehlt, zum Beispiel. Ihr Standardargument an | |
dieser Stelle lautet: „Man kann nicht einerseits mehr junge Leute in der | |
Politik sehen wollen und ihnen dann vorwerfen, dass sie keine zehn Jahre | |
Berufserfahrung mitbringen. Irgendwann muss man sich da mal für eine Sache | |
entscheiden.“ | |
## „Ich bin die Nummer eins“ | |
Julia Willie Hamburg hat sich entschieden. Und wie ernst sie das meint, | |
zeigt sich auch daran, dass sie sich in letzter Zeit verstärkt bei den | |
sogenannten „harten“ Themen warmläuft: Wirtschaft und Verkehr. Als arbeite | |
sie daran, sich ministrabel zu machen. | |
Auch die ewigen, nervigen Nachfragen danach, wer denn – rein hypothetisch! | |
– aus der grünen Doppelspitze Ministerpräsident*in werden und in die | |
Staatskanzlei einziehen würde, beantwortet sie mittlerweile mit einem | |
knappen „Ich bin die Nummer eins“. | |
Das gehört zu den Kröten, die ihr Vize, der Ex-Landwirtschaftsminister | |
Christian Meyer, schlucken musste. Der notorische Schnellsprecher und | |
begabte Polemiker fügte sich, pflügt seither mit Verve durch den ländlichen | |
Raum und positioniert sich [3][vor allem als Klimaschutz-Experte]. Dass | |
auch er parteiintern dem linken Flügel zugerechnet wird, spielt keine | |
Rolle, behaupten beide tapfer. Die Zeit der Flügelkämpfe sei vorbei, sagt | |
Hamburg. Sie versucht gerne daraus eine Erfolgserzählung zu schnitzen. Die | |
Grünen hätten das alles durch. Deshalb sei niemand besser geeignet, | |
widerstreitende Positionen an einen Tisch zu bringen und zu vereinen. | |
Neben dieser Erfahrung mit zähen und harten Auseinandersetzungen gibt es | |
eine weitere Erfahrung, die Hamburg geprägt hat. Sie war 2013 kaum jüngste | |
Landtagsabgeordnete und zum zweiten Mal Mutter geworden, als sie infolge | |
der Schwangerschaft eine schwere Herzerkrankung bekam. Die postpartale | |
Kardiomyopathie (PPCM) ist eine seltene und kaum bekannte Komplikation. | |
Julia Hamburg stoppte sie quasi im vollen Lauf, nach einem parteiinternen | |
Aufstieg, der bis dahin rasch und reibungslos aussah. Und weil sie nun | |
schon in der Öffentlichkeit stand, wurde die auch öffentlich verhandelt. | |
Hamburg entschied sich, aus der Not eine Tugend zu machen: Sie gab | |
Interviews, um auf die lebensbedrohliche und oft übersehene, zu spät oder | |
falsch diagnostizierte Krankheit aufmerksam zu machen. | |
Zehn Monate lang fiel sie aus, in dieser Zeit enthielt sich auch jeweils | |
ein FDP-Mitglied bei den Abstimmungen, um die Mehrheitsverhältnisse nicht | |
zu verzerren. Erst im Juli 2014 kehrte Hamburg in den Landtag zurück, den | |
Landesvorsitz hatte sie abgegeben. Zur Fraktionsvorsitzenden wurde sie | |
2020, nachdem Anja Piel in den DGB-Bundesvorstand nach Berlin gewechselt | |
war. | |
Julia Willie Hamburg gilt als energische Verfechterin von Rot-Grün. Sie | |
sagt von sich, dass sie 2005 – als Schröder die Vertrauensfrage stellte – | |
in die Partei eingetreten sei, um das rot-grüne Projekt zu verteidigen. | |
Genauso energisch verteidigt sie heute die Politik der Ampel. | |
## Grüne als dynamischer Juniorpartner | |
Ihr Wunschkoalitionspartner bleibt auch in diesem Wahlkampf Weils SPD. Wenn | |
sie sich eine Verhandlung mit der CDU um eine schwarz-grüne Koalition | |
prinzipiell offen hält, dann eher aus taktischen Gründen – und nie ohne den | |
spöttischen Halbsatz, man müsse schon sehr genau schauen, welche | |
Gemeinsamkeiten man da überhaupt ausmachen könnte – erfolgreiche | |
schwarz-grüne Koalitionen in NRW und Schleswig-Holstein hin oder her. | |
Lieber stilisiert sie die Grünen zum dynamischen Juniorpartner, der als | |
Einziger in der Lage ist, die träge SPD zum Jagen zu tragen. Betrachtet man | |
die Umfragen, ist das auch die realistischste Variante. Zumal | |
Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) allen Sticheleien zum Trotz seit fast | |
zwei Jahren erklärt, er wolle lieber wieder mit den Grünen regieren. | |
Allerdings bleibt abzuwarten, wie viel vom Umfrage-Höhenflug am Wahltag | |
noch übrig bleibt: Im Sommer kamen die Grünen auf über 20 Prozent, jetzt | |
sind es eher 17. Im Sommer sah es so aus, als könnten die Grünen zum ersten | |
Mal Direktmandate erzielen, mittlerweile sind diese grünen Flecken auf der | |
traditionell rot-schwarzen Landkarte Niedersachsens deutlich geschrumpft. | |
Chancen gibt allenfalls noch in den Universitätsstädten Hannover und | |
Göttingen. | |
Das liegt auch daran, dass die grünen Spitzenkandidaten – anders als Weil | |
und selbst Althusmann von der CDU – kaum bekannt sind. Noch im Sommer ergab | |
eine infratest-dimap-Umfrage im Auftrag des NDR, dass dreiviertel aller | |
Wahlberechtigten Julia Willie Hamburgs Namen nicht kannten. | |
Seither sind sie und ihr Vize allerdings unermüdlich durchs Land gereist, | |
um sich bekannter zu machen. Und dabei erzählt sie gern die Geschichte, wie | |
es zu ihrem zweiten ungewöhnlichen Vornamen kam. „Willy“ nannten die Eltern | |
scherzhaft unter sich den dicken Schwangerschaftsbauch – bevor sie wussten, | |
dass sich darin ein kleines Mädchen befand. Der Name, nun mit der | |
weiblichen Endung -ie, blieb – wenn auch nur als zweiter Vorname. | |
7 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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