# taz.de -- „Marsch für das Leben“ in Berlin: „Bevormundung wie im Mitte… | |
> Am Samstag marschieren wieder Abtreibungsgegner durch Berlin. Die | |
> Gynäkologin Mandy Mangler über Kriminalisierung ihrer Arbeit und | |
> Anfeindungen. | |
Bild: Religiöser Fundamentalismus kann gefährlich sein für das Leben von Fra… | |
taz: Frau Mangler, Sie sind Chefärztin der Gynäkologie am Vivantes Klinikum | |
und Rednerin beim Aktionstag des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung | |
gegen den [1][„Marsch für das Leben“] am Samstag. Warum nehmen Sie an den | |
Protesten teil? | |
Mandy Mangler: Weil ich mich als Frau und als Ärztin diskriminiert und | |
bevormundet fühle. Als Frau möchte ich kein Spielball politischer | |
Entscheidungen und Bestimmungen sein: etwa in Situationen, in denen ich in | |
meiner Lebensplanung anders entscheiden würde als jetzt, zum Beispiel, wenn | |
ich eine ungewollte Schwangerschaft hätte. Ich will mich qualitativ | |
hochwertig informieren lassen und selbstbestimmt entscheiden. Als Ärztin | |
möchte ich Menschen, die ungeplant schwanger sind und zu mir kommen, nicht | |
emotionalisiert behandeln, sondern sie rein medizinisch betreuen. Sie | |
sollen von mir auf legale Art und Weise straffrei informiert werden, damit | |
ihr medizinisches Problem gelöst werden kann. | |
Was halten Sie von den Forderungen der Abtreibungsgegner*innen? | |
Sie sind sehr gefährlich, weil damit eine Entmündigung und eine | |
Politisierung von Frauenkörpern einhergeht. Diese Bevormundung durch die | |
sogenannten Lebensschützer*innen, denen das Leben der Frauen offensichtlich | |
egal ist, gehört wirklich ins Mittelalter. | |
Wie steht es um das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland? Ist | |
mit der Abschaffung von Paragraf 219a und damit dem Verbot der „Werbung“ | |
für Schwangerschaftsabbrüche alles gut? | |
Nein, es ist nur ein bisschen besser. [2][Am 24. Juni wurde der Paragraf | |
219a abgeschafft]. Am gleichen Tag wurde in den USA das | |
verfassungsrechtlich garantierte [3][Recht auf Abtreibung gekippt]. Wir | |
haben also einen Minischritt in Deutschland nach vorne getan und in den USA | |
dafür Riesenschritte zurück. Und auch dieser Minischritt, den wir in | |
Deutschland gegangen sind, war längst überfällig. Die Abschaffung von 219a | |
bedeutet nur, dass ich als Ärztin jetzt über medizinische Leistungen | |
informieren darf. Ich werde in meiner Arbeit aber immer noch | |
kriminalisiert. | |
Inwiefern? | |
Ich muss mir bei jedem Schwangerschaftsabbruch oder bei jeder Beratung den | |
Kopf zermartern, ob ich alles richtig gemacht habe, ob ich mich an die | |
Regeln gehalten habe, die so kompliziert sind, dass man sie oft nachlesen | |
muss, damit man nicht illegal handelt. Es ist eine Zumutung, dass ich bei | |
einer medizinischen Leistung überlegen muss, ob ich mich kriminell verhalte | |
oder nicht. Ob ich alles gut dokumentiert habe, weil ich sonst meine | |
Existenz verliere oder meine Approbation oder ins Gefängnis komme. | |
Ihre Arbeit ist durch die Streichung von Paragraf 219a also nicht leichter | |
geworden? | |
Nicht wirklich. Ich habe schon davor kein Blatt vor den Mund genommen und | |
auch öffentlich Menschen über Schwangerschaftsabbrüche informiert. Dass | |
dieser Paragraf jetzt weg ist, erleichtert ein bisschen was, aber nicht | |
viel. Die Politik macht es uns schwer, damit wir es der Patientin, die | |
ungeplant schwanger geworden ist, schwer machen. Quasi als Strafe für ihre | |
sexuelle Freiheit. Wenn sich eine Frau sexuell selbstbestimmt durchs Leben | |
bewegt und Sex hat und dann ungeplant schwanger ist, dann soll sie dafür | |
büßen. Schon der Gedanke an Abtreibung soll bestraft werden. Es soll für | |
die Frau eine unschöne Situation sein und so ist es ja auch. Es sei denn, | |
sie findet eine Klinik oder Praxis, die auf Augenhöhe mit ihr kommuniziert | |
und sie nicht verurteilt. Das ist aber selten. | |
Was müsste sich tun, um das Recht auf sexuelle und reproduktive | |
Selbstbestimmung auch Wirklichkeit werden zu lassen? | |
Man müsste Paragraf 218 abschaffen und damit die Kriminalisierung von | |
Schwangerschaftsabbrüchen. Und Schwangerschaftsabbrüche zu einer | |
medizinischen Leistung der Krankenkassen umwandeln. | |
Ist das realistisch? [4][In Ungarn gilt jetzt ein verschärftes | |
Abtreibungsrecht], in Polen existiert es de facto gar nicht mehr, in den | |
USA wurde es weitestgehend gekippt. Droht nicht eher ein rechter Rollback? | |
Wenn ich feministische Literatur aus den fünfziger Jahren lese, habe ich | |
das Gefühl, da hat sich gar nichts getan. Das ist wirklich schlimm. | |
Manchmal machen wir Schritte nach vorne, dann machen wir wieder Schritte | |
zurück. Insgesamt kommen wir wesentlich langsamer voran, als ich mir das | |
wünschen würde. Wir haben weite Teile der Welt, in denen die reproduktive | |
oder überhaupt körperliche Selbstbestimmung der Frau nicht umgesetzt wird. | |
Und wir Frauen, unsere Körper, sind Spielball und Ware. Das ist wirklich | |
hart zu verkraften. | |
Erleben Sie wegen Ihrer Arbeit Anfeindungen? | |
Ja klar kriege ich Anfeindungen. KZ-Vergleiche sind sehr beliebt bei diesen | |
Menschen. Ich kann echt viel ertragen und habe ein dickes Fell, aber diese | |
KZ-Vergleiche finde ich so schlimm, dass ich keine Worte dafür finde. | |
Holocaust-Vergleiche finden sich auch bei den Teilnehmer*innen vom | |
„Marsch für das Leben“. Was wollen Sie denen gern mitgeben? | |
Die dringende Empfehlung aufzuhören, die Deutungshoheit über andere Körper | |
haben zu wollen. Wenn sie gegen Schwangerschaftsabbrüche sind, dann sollen | |
sie einfach keinen haben. Ich verstehe das Problem nicht. | |
15 Sep 2022 | |
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[4] /Schwangerschaftsabbrueche-in-Ungarn/!5878203 | |
## AUTOREN | |
Marie Frank | |
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