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# taz.de -- Die Wahrheit: Kinderhasser an die Macht
> Progressive Schülerschrecks: Im Herbst beginnt die Saison der
> Busrauswerfer. Ein Bericht von den Weltmeisterschaften in Finnland.
Es ist jedes Jahr dasselbe. Kaum werden die Tage kürzer und kälter, häufen
sich wieder Meldungen wie diese: In Braunschweig warf jetzt ein Busfahrer
eine Zehnjährige aus dem Bus, weil er ihren Zwanzigeuroschein nicht
wechseln wollte, wie der NDR berichtete. Legendär ist auch bereits der Fall
der zwölfjährigen Musikschülerin, die mal bei Rostock aus der Regionalbahn
verwiesen wurde und mit ihrem schweren Cello auf dem Rücken fünf Kilometer
weit durch die Dunkelheit nach Hause latschen musste.
In der warmen Jahreszeit scheint all das hingegen so gut wie nie Thema zu
sein. Offenbar gibt es bei Bus und Bahn eine klar umrissene
Kinder-aus-öffentlichen-Verkehrsmitteln-Rausschmeiß-Saison. „Ja, im Juli
macht das alles keinen Spaß“, bestätigt Gisela Dombrowski (42),
Schulbusfahrerin beim Haßfurter Verkehrsverbund (HVB). „Die Kids lachen
dich rotzfrech an und setzen sich dann einfach zum Saufen in den
nächstgelegenen Park. Erst wenn die Situation so richtig ungemütlich wird,
schlägt unsere Stunde.“
Und wie die schlägt, sehen wir auf ihrer täglichen Tour. Ob Lügen oder
Drohungen, Schläge oder Beschimpfungen, infernalisches Geschrei oder frei
erfundene Bestimmungen – vor unseren Augen breitet sich ein schier
unendliches Arsenal der Willkür aus. Die Gründe für den Rauswurf der
Schulkinder sind mannigfaltig: Hier kann angeblich auf einen Euro nicht
herausgegeben werden, dort weist eine Monatskarte ein kleines Eselsohr auf.
Weinende Schüler, quietschende Reifen, ein sich zusehends leerender Bus:
Die Busfahrerin aus Leidenschaft ist sichtlich in ihrem Element.
Unterstützt wird sie oft durch ehrenamtliche Kinderhasser. So fährt bei
Dombrowski heute Florian Semmler (51) mit, der im Sommer mit großem Erfolg
als Brandstifter arbeitet (siehe Wahrheit vom 6. 8. 2022). Um in der
dunklen Jahreszeit nicht untätig zu bleiben, fischt der unbezahlte
Kontrolleur gnadenlos sämtliche Kinder ab, die der Fahrerin doch noch durch
die engen Maschen schlüpfen. Die beiden bilden ein perfekt harmonierendes
Team, von den Kollegen bewundernd „Skylla und Charybdis“ genannt.
## Lobeshymnen der Zunft
„Man tut, was man kann.“ Bescheiden wehrt Semmler die übertriebenen
Lobeshymnen seiner Zunft ab. Ohnehin schadet Ruhm bei einer Tätigkeit, die
doch auf Konspiration und Anonymität angewiesen ist, mehr als er nutzt.
„Wem Eitelkeit und Selbstdarstellung wichtig sind, sollte lieber Hebamme
oder Sozialarbeiter werden und keine Schüler aus dem Bus schmeißen. Das ist
ein seelisch belastender, undankbarer Knochenjob. Mir persönlich ist es
einfach nur wichtig, dass ich auch im Winter etwas Sinnvolles tun kann,
geistig rege bleibe und mich charakterlich zurückbilde.“
Zur Belohnung wurde Florian Semmler jetzt Zeuge einer beruflichen
Sternstunde. Als Gisela Dombrowski kürzlich eine komplette Schulbusfuhre
von 45 Kindern mit validen Schülermonatstickets des Nachts an einer
Sondermülldeponie hinauskomplimentierte, und die Flüchtenden anschließend
noch mit Nothammern bewarf, berichtete sogar die New York Times darüber.
Doch die scheinbare Überperformance erfüllte einen klaren Zweck, nämlich
die Qualifikation für die Weltmeisterschaften der fiesesten Schaffner,
Busfahrer und Kontrolleure, die jeden Januar im finnischen Potkurikaupunki
steigen. Wer es dahin schafft, hat sich in der nationalen Ausscheidung
gegen knallharte Konkurrenz durchgesetzt.
Die Disziplinen sind zwar nach Bus, Bahn und Fähre getrennt, doch nicht,
wie in so vielen anderen Sportarten, nach Geschlechtern. Das haben die
progressiven Schülerschrecks auch nicht nötig. In diesem Geschäft können
Frauen alles erreichen, ohne dass ihnen künstlich Steine in den Weg gelegt
werden. Der beste Beweis ist Gisela Dombrowski, die hier mindestens als
Geheimfavoritin gilt, obwohl die Teilnehmenden aus den nordischen Ländern
und Russland einen schwer wettzumachenden Trainingsvorteil besitzen, da bei
ihnen die Saison deutlich länger und kälter ist.
Von Möglichkeiten wie der, einen Achtjährigen tausend Kilometer vom
nächsten Bahnhof entfernt barfuß aus der Transsibirischen Eisenbahn und
mitten in die Tundra zu werfen, können unsere deutschen Athleten,
geschweige denn ihre südeuropäischen Kollegen, nur träumen. Doch mit viel
Fleiß, unglaublicher Bosheit und eiserner Disziplin rechnet sich unsere
Frau in Finnland einiges aus.
Dass Talent dazugehört, braucht eigentlich nicht weiter erwähnt zu werden,
denn begabt sind viele. Wenn dann aber die Wettkampfhärte fehlt, wie 2016
dem mexikanischen Schulbusfahrer Rodrigo Santiago López, der aussichtsreich
im Vorderfeld liegend mitten im Wettbewerb die Nerven verlor und einem
weinenden Mädchen mit blonden Engelslocken die bereits vorbildlich
geschlossene Tür wieder öffnete, nützen die elegantesten Rauswurffiguren,
das lauteste Gebrüll, dieses ganze B-Noten-Gedöns nichts mehr. Denn vor der
Kür kommt immer noch die Pflicht, und wer schon im Handwerk versagt, den
katapultiert selbst der schönste Arschtritt nicht einmal mehr unter die Top
Twenty.
## Anspruchsvoller Parcours
Die Parcours im finnischen Potkurikaupunki sind anspruchsvoll. Die
Schülerinnen und Schüler warten in einer eigens für sie eingerichteten
Kältekammer auf ihren Einsatz, um mit roten Nasen und gefrorenen Tränen im
Gesicht entsprechend mitleiderregend aufzutreten. Den einen fehlt das
Kleingeld, andere haben die neue Monatsmarke zwar schon dabei, aber noch
nicht aufgeklebt, und in der Königsdisziplin werden Musikschüler mit Cello,
Kontrabass oder Stalinorgel trotz gültiger Fahrausweise auf freier Strecke
ausgesetzt.
Des Weiteren gibt es Haltestellen, an denen die Fahrer die Türen gar nicht
erst öffnen oder lachend daran vorbeirasen. Sonderpunkte gibt es auch für
das zielgenaue Treffen einer Pfütze neben einer Schülergruppe und
Knock-outs mit dem rechten Außenspiegel. Die Anforderungen auf Schiene und
Straße ähneln einander, bei Linienschiffen kommt noch das Kielholen und die
Planke hinzu.
Als Allrounderin wird Gisela Dombrowski sowohl im Einzel als auch im
Doppel, zusammen mit Florian Semmler, antreten. Sie hat Zeit, uns das alles
zu erzählen, da wir uns mittlerweile an der Wendeschleife ihrer Endstation
befinden. Pause. Während ihr Helfer mit einem Schlauch das Schülerblut von
den Trittstufen spritzt, kaut die Chauffeurin an einem Gurkensandwich aus
der mitgebrachten Stullenbüchse. Dabei erzählt sie uns mit leuchtenden
Augen von ihrem heimlichen großen Traum: „Einmal so ein Gör achtkantig aus
einem mit 300 Sachen fahrenden ICE zu werfen – das wär’s!“ Da drücken w…
doch gern die Daumen.
24 Sep 2022
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Schule
Kinder
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