Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Märchen-Moment im Alltag: Die Haus-Schnecke
> Das dreijährige Mädchen wollte eine Schnecke mit Haus als Haustier. In
> der feuchten Wiese fanden wir keine. Aber dann geschah etwas
> Märchenhaftes.
Manchmal ist das Leben wie ein Märchen. Man steht mitten im Licht, das
durch einen Nebelschleier auf eine Wiese fällt. Spinnfäden ziehen sich fast
unsichtbar über den Weg. Sekunden so still und so klar, als wären sie ein
Lied. Und man spürt etwas Größeres, das um dieses Leben liegt.
So war es auch mit der Schnecke. Mit zwei Kindern hatten wir uns von einer
Familienfeier gelöst. Ein kleiner Junge und eine Dreijährige. Wir liefen
über die Wiese. Das Gras nässte die Füße, ich nahm das Mädchen auf den Arm.
Wir liefen zum Waldrand. Das Mädchen wollte unbedingt eine Schnecke finden,
schon den ganzen Tag. „Eine Hausschnecke“, sagte sie. „Ich möchte eine
Schnecke mit Häuschen. Eine Häuschenschnecke als [1][Haustier].“
Es hatte gerade geregnet. Perfekte Schneckenzeit. Jetzt müssten viele
Schnecken herauskriechen. Am Waldrand suchten wir auf dem Boden, im Gras.
Aber wir fanden keine Hausschnecke. Das kleine Mädchen war betrübt. Sie
wollte noch tiefer in den Wald hinein. Doch es wurde dämmrig. Ich erklärte,
dass wir zurück mussten. „Die armen Schnecken“, sagte das Mädchen. Sie war
richtig traurig. Sie wollte so gern eine Hausschnecke als Haustier.
Am nächsten Tag ging ich in die Stadt. Auf dem Rückweg war ich in Gedanken.
Mein Blick streifte einen Stromkasten. Und da plötzlich sah ich es: ein
Schneckenhaus. Es klebte senkrecht an einem Stromkasten. Die Schnecke
musste von der Erde nach oben gekrochen sein. Vorsichtig nahm ich das
Schneckenhaus ab und drehte es um.
## Blick in die Welt
Das Haus war voll Schleim. Ich konnte nicht erkennen, ob die Schnecke noch
lebte, ob sie sich nur zurückgezogen hatte oder ob sie gestorben war. Es
war ein kleines Schneckenhaus. Bunt, spiralförmig durchzogen von einer
dunklen Naht. Ich behielt das Schneckenhaus leicht in der Hand, hielt es
zwischen Zeigefinger und Daumen, um es später dem Mädchen zu zeigen.
Ich ging so weiter. Die Sonne schien. Nach einigen Minuten vergaß ich, dass
ich das Schneckenhaus in der Hand hielt. Dann plötzlich spürte ich etwas
Weiches an meiner Fingerkuppe. Ich schaute auf meinen Finger. Und da war
sie. Die Schnecke musste unauffällig herausgekrochen sein. Nun schaute sie
aus ihrem Häuschen heraus, reckte ihren Kopf in die Welt. Drei Fühler hatte
sie.
Ich schaute und staunte. Plötzlich war es da, das Leben. Ganz zart. Es
wirkte wie ein Ja. Dass sich etwas zeigte und öffnete, plötzlich lebendig
sein kann. Auch dann, wenn man kaum noch damit rechnet. Mit der kleinen
Schnecke auf dem Finger stand ich da. Ich spürte ein umfassendes
Glücksgefühl, freute mich über die Freude, die das Mädchen fühlen würde.
Ein [2][Moment im Alltag]. Wie in einem [3][Märchen].
Die Schnecke saugte sich an meinem Finger fest. So gingen wir zusammen nach
Hause. Dann zog sich die Schnecke wieder in ihr Häuschen zurück. Ich setzte
das Schneckenhaus vorsichtig in eine Schachtel. Ich musste nun von der
Familienfeier abfahren. Das Mädchen war im Kindergarten. Es würde die
Schnecke sehen, wenn es wiederkam.
Am nächsten Tag bekam ich ein Foto zugeschickt von der Schnecke. Sie war
aus dem Schneckenhaus herausgekrochen und saß auf einem Apfelstückchen. Ihr
geht es gut, stand dabei.
16 Oct 2022
## LINKS
[1] /Haustiere/!t5022883
[2] /Wie-Dinge-den-Alltag-praegen/!5875223
[3] /Maerchen/!t5008248
## AUTOREN
Christa Pfafferott
## TAGS
Kolumne Zwischen Menschen
Märchen
Haustiere
Kindheit
Alltag
Kolumne Zwischen Menschen
Kolumne Zwischen Menschen
Kolumne Zwischen Menschen
Kolumne Zwischen Menschen
Kolumne Zwischen Menschen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gedanken über die Zeit zum Denken: Das Geheimnis der Pause
Am schönsten sind Menschen oft in ihren Pausen. Da sind sie in sich
versunken und tragen ein Geheimnis in sich.
Geschichte einer Erschütterung: Der Reporter
Manche Menschen sind nur kurze Wegbegleiter und hinterlassen doch einen
Eindruck. Mir ging es so mit dem Reporter von der Lokalzeitung.
Wie Dinge den Alltag prägen: Lebendige Momente
Die Dinge, die wir im Alltag mit uns herumtragen, wirken sich unmittelbar
auf unsere Stimmung aus. Vor allem, wenn es sich um besondere Dinge
handelt.
Von der Rückkehr der Nähe: Berührung ist vieles
In den Corona-Jahren haben wir viel über Sicherheitsabstand und Distanz
gesprochen. Weniger ein Thema ist jedoch, wie wir Nähe jetzt wieder lernen.
Christa Pfafferott Zwischen Menschen: Die Zecke
Von einer freundlichen Artzhelferin, die sich unbürokratisch kümmerte. Um
das Haftungsrisiko hat sie sich nicht geschert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.