# taz.de -- Normannen-Ausstellung in Mannheim: Halb so wild | |
> Die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zeigen eine Ausstellung über die | |
> Normannen. Beklemmend aktuell: Viele russische Exponate fehlen. | |
Bild: Ein Exponat der Ausstellung: der sogenannte Krönungsmantel Karls des Gro… | |
Die Normannen haben meist bekommen, was sie wollten, eine Ausstellung über | |
sie muss allerdings gerade auf einiges verzichten; und das ist natürlich | |
erst mal misslich für eine Großshow, an der seit Jahren gearbeitet wird. | |
Doch im Frühjahr überfiel Russland sein Nachbarland, nicht ohne zuvor | |
[1][durch seinen obersten Führer und Chefhistoriker Wladimir Putin | |
verkünden zu lassen, dass es die Ukraine als Nation gar nicht gebe.] | |
Ein solches Geschehen von welthistorischer Bedeutung kann nicht ohne | |
Auswirkungen auf ein Projekt bleiben, das sein Publikum mit einem Saal zur | |
„Kiewer Rus“ begrüßt, also dem politischen und kulturellen Raum zwischen | |
Ostsee und Schwarzem Meer, in dem sich zwischen dem 8. und dem 10. | |
Jahrhundert nach Christus eine mal friedliche, mal brutale Symbiose der | |
dort lebenden Ethnien mit Eroberern, Sklavenhändlern und Kaufleuten aus | |
Skandinavien – eben den Normannen – vollzieht. | |
Knapp zwei Dutzend Exponate aus Russland, insbesondere aus der Eremitage in | |
St. Petersburg, erfährt man beim Presserundgang und im gut lesbaren | |
Katalog, haben nicht den Weg ins historische Zeughaus der Mannheimer | |
Reiss-Engelhorn-Museen gefunden. Die Zusagen wurden zurückgezogen, | |
beziehungsweise wurde eine Ausleihe durch das Kriegsgeschehen unmöglich. | |
Das, schreiben die Ausstellungsmacher:innen, sei umso bedauerlicher, als es | |
ein Anliegen gewesen sei, Geschichtsmythen aufzuzeigen und zu überwinden, | |
gerade wenn unter Rückgriff auf eine Interpretation der „Kiewer Rus“ als | |
„Keimzelle Russlands“ aktuelle politische Entscheidungen – also ein | |
verbrecherischer Krieg – begründet und die Vergangenheit einmal mehr | |
instrumentalisiert werde. | |
Einmal mehr: Denn schon zu realsozialistischen Zeiten war es immer das | |
Bestreben einer ideologisch gelenkten Geschichtswissenschaft gewesen, das | |
slawische Element der Staatsgründungen mit dem Zentrum Kiew zu betonen und | |
den normannischen Einfluss zu minimieren. Insofern ist der das | |
Multikulturelle und Multiethnische betonende Empfang in Mannheim durchaus | |
angemessen, wenn auch sinnlich etwas mager. | |
## Verweise auf die ukrainische Geschichte | |
Doch der Mangel schafft Raum für einen Blick auf eine äußerst unscheinbare | |
Scherbe, deren Verzierung und Bedeutung sich eben gerade nicht über eine | |
spektakuläre Sinnlichkeit des Objekts erschließt. Es handelt sich um ein | |
Amphorenfragment aus der Mitte des 11. Jahrhunderts mit einem eingeritzten | |
Zweizack, dem Symbol der normannischen Herrscherdynastie in Kiew. Um einen | |
Zacken erweitert schmückt das Symbol heute das offizielle Wappen der | |
Ukraine, als Dreizack eben. Die Amphore wiederum, hat die Wissenschaft | |
herausgefunden, enthielt Wein aus Griechenland, der über die von den | |
Normannen – in Osteuropa „Waräger“ genannt – erschlossene Flussroute b… | |
nach Schweden gelangte. Heute hat das Fragment sein Zuhause im Museum von | |
Sigtuma bei Stockholm – ein langer, aber nicht unüblicher Weg für einen | |
dann hoffentlich guten Wein. | |
Vielleicht muss man an dieser Stelle die Begriffe klären. Vereinfacht | |
gesagt sind die Normannen („Nortmanni“) die christianisierten Enkel der | |
heidnischen Wikinger, die seit dem Überfall auf das englische Kloster | |
Lindisfarne am 8. Juni 793 zum Schrecken Europas und des Mittelmeerraumes | |
geworden waren. Wikinger plündern und morden, Normannen bleiben und | |
herrschen: in Osteuropa, in der nach ihnen benannten Normandie, in | |
Katalonien, Sizilien und Süditalien, kurzfristig auch im heutigen Tunesien | |
und natürlich in England, das Normannen aus der Normandie beginnend mit der | |
Schlacht von Hastings 1066 erobern. Das Wort Rus wiederum wird vom | |
altnordischen Begriff für Ruderer abgeleitet, die Finnen nennen die | |
Schweden heute noch „ruotsi“. | |
Geblieben ist von alldem Normannischen im Wesentlichen Calvados und | |
großartige Kunst – und natürlich die Populärkultur. Bis zum Ende des 20. | |
Jahrhunderts war die befüllt mit Asterix-Witzen über die furchtlosen | |
Normannen Maulaf, Telegraf und Stenograf, mit den epischen Warägerfahrten | |
aus den Prinz-Eisenherz-Comics und mit Figuren wie Hägar dem Schrecklichen | |
und Wickie. All das ist inzwischen verdrängt worden von Streaming-Serien | |
wie „Vikings“ – die Wikinger sind auch nur Menschen mit Problemen –, | |
unbedingt sehenswertem Brutalo-Kino-Trash à la „Pathfinder“ [2][und sehr | |
gelungenen TV-Satiren wie „Beforeigners“.] Auch die „Herr der Ringe“-, … | |
nicht die gesamte Mittelaltermanie ist ohne die Folie der wilden Mannen aus | |
dem Norden nicht denkbar, [3][wobei „Ringe“-Schöpfer J. R. R. Tolkien | |
selbst sich wiederum von nordischen Mythen und Sagas anregen ließ]. | |
Es geht bei einer Schau über die Normannen also immer mindestens so sehr um | |
Geschichten, wie es um Geschichte geht. Deswegen gibt es in Mannheim | |
Videowände mit Kriegsszenen zu sehen, es gibt Helme zum Aufsetzen, | |
Kettenhemden zum Anziehen und Fühlboxen, in deren Innerem Materialproben | |
der ausgestellten, unberührbaren Exponate angefasst werden können. | |
## Eine Lektion in Sachen Kulturaustausch | |
Das alles stört jedenfalls nicht, letztlich sind es aber immer die | |
Exponate, ihre Aura, ihre Geschichtsgesättigtheit, ihre schlichte Schönheit | |
oder das von ihnen hervorgerufene Grauen – etwa bei eisernen Sklavenfesseln | |
–, die das Publikum faszinieren oder eben nicht. | |
Jede Geschichtsschau lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht | |
garantieren kann: Empfänglichkeit, Interesse, Fähigkeit sich einzulassen | |
und zu versenken. In der Mannheimer Ausstellung gibt es zahlreiche | |
Exponate, die auch Nerdverächter begeistern können und die die ganze | |
Spannbreite des kulturellen Raums repräsentieren: eine grimmig putzige | |
Normannen-Schachfigur aus Schottland; eine hochexpressiv-expressionistische | |
romanische Altartafel aus Katalonien, eins der ältesten überhaupt | |
überlieferten Gemälde auf Holz; ein silberner „Walküren“-Anhänger aus | |
Ipswich, vielleicht eine Darstellung der kriegerischen Schildmaiden aus den | |
Sagas (von Kriegerinnen unter den Normannen berichten auch byzantinische | |
und irische Autoren); und schließlich der sogenannte Krönungsmantel Karls | |
des Großen, der in den königlich-normannischen Werkstätten in Palermo | |
gefertigt wurde und heute im Museum in Metz verwahrt wird. | |
Mit ihm war vermutlich auch der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. bei | |
seiner Krönung 1220 geschmückt, seine Mutter war die Normannin Konstanze. | |
Neben vielen imperialen Adlern sind auf dem Mantel zahlreiche Halbmonde und | |
florale Ornamente zu sehen, die auf orientalische Traditionen verweisen. | |
Friedrich herrschte eben in Sizilien auch über eine arabische Bevölkerung | |
und wollte sie repräsentiert sehen. | |
Damit betritt man natürlich das Reich der Interpretation. Aber wenn man den | |
Erkenntnisgewinn, den „Die Normannen“ vermittelt, zusammenfassen möchte, | |
dann ist es deren große Begabung, die barbarischen Wikingerhelme zügigst | |
abzulegen, vom Fremden zu lernen und, eher als es zu unterwerfen, sich von | |
ihm beeinflussen, ja überwältigen zu lassen; und das wird man dann wohl | |
eine hochaktuelle Lektion nennen dürfen. | |
21 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dw.com/de/putin-formuliert-ukraine-doktrin-und-droht/a-58280641 | |
[2] /Norwegische-Miniserie-Beforeigners/!5761283 | |
[3] /Kolumne-Mittelalter/!5379852 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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