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# taz.de -- Die Wahrheit: Der Bildungsböller
> Die „Nürnberger Nachrichten“ erklären Hans Magnus Enzensberger für tot.
> Der 92-jährige Lyriker und Essayist indes lebt munter in München.
Bild: Endlich ein Bild der berühmten Spirale der Gewalt
Ich musste es viermal lesen. Und ich habe vier verständige Menschen zurate
gezogen – unter ihnen ist eine Anglistin und ein Germanist –, um
herauszufinden, wer spinnt: ich oder der.
Ich will mich nicht in irgendetwas verbeißen, und die Nürnberger
Nachrichten sind es schon gar nicht wert, eine endlose Fehde mit den dort
tätigen Spitzendenkern anzuzetteln. Die machen sowieso weiter in ihrer
fürchterlichen Eitelkeit (siehe Wahrheit v. 9. 9. 2022). Das nervt recht
bald, zumal den Leser. Aber in diesem Fall muss es noch einmal sein. Diese
Causa ist eine ungeheuerliche.
Hans Böller heißt der Mann. Gut zwei Jahrzehnte war er Sportchef der
Karnevalspostille im Zeichen der Burg. Seit einiger Zeit ist er für dit und
dat, also für schlechthin alles zuständig, von Bierkrügen bis zu
abgewrackten Feudalhäusern, und fertigt sogenannte Reportagen an – oder
Besinnungsaufsätze, die eine ganze Seite füllen, wie am vergangenen
Samstag, am 10. September 2022.
„Lies das mal! Da stimmt was nicht!“, sagte mein 82-jähriger Vater. Hans
Böller hatte sich den Begriff oder die Idee des Bildungsbürgers vorgeknöpft
und planlos einen Riemen zusammengegoogelt, in dem kein leitender Gedanke,
keine Intention, keine Quintessenz zu erkennen war. Doch was ich in der
ersten Spalte las, verschlug mir buchstäblich den Atem.
Hans Bildungsböller – er soll Germanistik studiert haben – bezog sich zu
Beginn auf die Figur der Friseurin Zizi, die Hans Magnus Enzensberger als
Prototypen des neuen Antibildungsbürgers gezeichnet und in einer
TV-Quizshow hatte auftreten lassen. „Der Schriftsteller war sicher, ‚daß
Zizis Lexikon mindestens so umfangreich ist wie das eines Gelehrten aus dem
Humanismus‘“, erläuterte Böller.
War? Ich stutzte. Nun gut, das Präteritum ist da halbwegs vertretbar.
Allerdings folgte dies: „Enzensberger ging es um den Unterschied zwischen
Wissen und Bildung … Enzensberger schrieb das 1988. Aber würde er heute
noch leben: Würde er zur Weltdeutung öfter in Talkshows eingeladen als der
Berliner Friseur Udo Walz?“
„Würde er heute noch leben“? Hab ich das Lesen verlernt? Bin ich
verblödet?, dachte ich. Nächster Satz: „Einen Bildungsbürger nannte man
Enzensberger, nach seinem Tod auch den letzten Bildungsbürger, es war
längst ein verschämt hingemurmelter, fragwürdiger Ehrentitel, der zuvor
schon Thomas Mann oder Theodor W. Adorno in die ewige Ruhe begleitet
hatte.“
Vier, wie erwähnt,verständige und entsetzte Menschen bestätigten mir, dass
ich richtig-lag. Hans Magnus Enzensberger, der übrigens in Nürnberg
aufwuchs, lebt 92-jährig in München, Gott sei Dank. Er ist einer der
bedeutendsten Lyriker, Essayisten und Übersetzer der deutschen
Sprachgeschichte.
Hans Böller spinnt nicht bloß. Er hat bei vollem Bewusstsein eine
Riesensauerei zu Papier gebracht. Die Nürnberger Nachrichten bringen es
fertig, einen lebenden Menschen zweimal zu begraben. Was spricht jetzt noch
für dieses Kloakenblatt?
12 Sep 2022
## AUTOREN
Jürgen Roth
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Hans Magnus Enzensberger
Journalismus
Nürnberg
Medien
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Stilistik
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