# taz.de -- Die Wahrheit: Fern des Bieres in der Frühe | |
> Wenn der alkoholische Rausch im Urlaub ist, bleibt Zeit für manch liegen | |
> gebliebene Dinge. Und für die morgendliche Idylle in der Stadt. | |
Bild: Ein Interview mit dem guten alten Ozzy Osbourne löst in Franken Publizis… | |
Der Vorteil, wenn man mal vier Wochen kein Bier und auch sonst nichts | |
Alkoholisches trinkt, weil man’s auf einmal überhatte, ist zum Beispiel, | |
dass man plötzlich die balkanesisch chaotische Buchhaltung auf Vordermann | |
bringt. Man beantwortet auch zwei Jahre alte Mails und findet in den | |
Bücher- und Papierstapeln, die man gelassen, nicht fluchend sortiert und | |
wegräumt, den Anfang eines Manuskripts wieder, das man jetzt | |
weiterschreibt, und man fühlt sich gut dabei, es geht einem leicht von der | |
Hand. | |
Man poliert die E-Gitarre, pflegt den Dielenboden, schmeißt allerlei in die | |
Müllcontainer im Hof. Man wird zum Kleinbürger. Das ist eine Zeit lang | |
nicht schlecht, denn man kümmert sich um die Dinge, aus der unsere Welt, in | |
der wir heimisch zu sein versuchen, ja auch besteht. Der Rausch ist | |
unverzichtbar, aber ich gönne ihm ab und zu ganz gern mal Urlaub. | |
Man braucht wenig Schlaf und ist früh wach. Das ermöglicht das Schönste: | |
Morgens um halb sechs auf dem Balkon zu sitzen und dem von Reibelauten | |
durchsetzten Geplapper des Hausrotschwanzes zuzuhören. Dann Schuhe an und | |
rüber zum Backshop, einen großen Café Crème kaufen. | |
An den Kreuzungsköpfen der von Baumreihen eingefassten Allee stehen vier | |
Parkbänke. Die mir genehmste ist die, stadtauswärts gesehen, vordere linke. | |
Läuft es ein bisschen ungünstig, muss ich den rund um die Uhr mit | |
sämtlichen Substanzen aus dem globalen Hirnmittelhandel befüllten | |
Quartiersbewohner I. nachsichtig abwimmeln. Den auf der anderen | |
Straßenseite schweigend ihren Dienst verrichtenden Frühbölkern gucke ich | |
wohlgesinnt zu. | |
Es ist dieses einfache Dahocken. Den Pappbecher neben mir. Die glücklich | |
frische Sommermorgenluft haucht übers Gesicht. Das Schauen. Das | |
absichtslose, vollkommen ruhige Hineinschauen in eine völlig normale, | |
schlichte Welt, in der Menschen irgendwohin fahren, von irgendwoher kommen, | |
irgendwas zu tun haben. Besorgungen machen. Jemanden besuchen. Sich | |
vielleicht nur die Beine vertreten und dabei tagträumen. Oder mit ihren | |
Nöten beschäftigt sind. | |
Etwas später die federweichen Rufe der Bussarde am blauen Himmel. Ein | |
friedliches, temperiertes Leben. Das bieten bloß die frühen Stunden. | |
Neulich, während des abendlichen Boules auf dem Mittelstreifen der Allee, | |
ich war als einziger nüchtern und deshalb noch schlechter als gewöhnlich, | |
plärrten zwei Amseln endlos lang absolut sinnlos auf einen Turmfalken ein, | |
der auf einer Dachantenne die Zeit verstreichen ließ. | |
Seit dieser Woche gieße ich alle paar Tage die beiden Spitzahorne, die mir | |
auf der Parkbank Schatten spenden und die unter der Trockenheit schwer zu | |
leiden haben. Vierzig Liter kriegen sie jeweils, die ich im Eimer vom Kiosk | |
vis-à-vis heranschleppe – das „franziskanische Prinzip“ (Jonathan Franze… | |
Das alles kommt davon, wenn man mal vier Wochen kein Bier und auch sonst | |
nichts Alkoholisches trinkt. | |
2 Aug 2022 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Roth | |
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