| # taz.de -- Die Wahrheit: Frankfurter Büdchenrealismus | |
| > Sind am Main ungefähr 60 Jahre Knast und 100 Jahre Obdachlosigkeit auf | |
| > einem Platz versammelt, entsteht Diskursives, das Schopenhauer um Längen | |
| > toppt. | |
| Bild: Koop und Hädler vor Hubschrabbschrabb? Wäre auch ein zu schönes Bild | |
| Nachdem die schöne Frau und ich drei Tage lang Edgar Reitz’ phänomenale | |
| Spielfilmreihe „Heimat“ geschaut hatten, kam mir in den Sinn, mal wieder | |
| was arbeiten zu müssen. Ich ging runter zum Platz und wollte mir ein Taxi | |
| bestellen, um nach Hause zu fahren. | |
| Vor dem Büdchen stand Lorenz mit einem Radeberger und schleuderte mir „Das | |
| Leben ist schlecht!“ entgegen. „Lest Bertolt Brecht!“, krähte ich retour. | |
| „Dafür gebe ich dir eins aus“, meinte Lorenz, und danach saß ich bis aben… | |
| an einem der Holztische auf dem Platz. | |
| Rasch waren die Bänke mit jenen Menschen besetzt, die die hiesige | |
| einzigartige Sozialformation bilden, und es wurde auf Deubel komm raus | |
| weitergedichtet. „Die Welt ist kein Konfetti, / Heißt es bei dem Canetti“, | |
| schmiss Lorenz in die Runde und legte sofort nach: „Die Dinge sind ja nie | |
| affin, / Das steht bei Walter Benjamin.“ | |
| Ich mühte mich redlich: „So mancher hat doch was bereut, / Drum griff er | |
| dann zu Sigmund Freud.“ Wer anschließend welche Verse einwarf, weiß ich | |
| nicht mehr, sehen lassen können sie sich jedenfalls: „Er kriegte eine in | |
| die Fresse, / Es half ihm rasch der Hermann Hesse.“ – „Der Junker schrie | |
| beim Heimritt: / ‚Ich kauf mir heut ’nen Piwitt!‘“ – „Es ist doch a… | |
| scheiße, / Erklärt Max Herrmann-Neiße.“ – „Der Kahn hat keine Eier, / | |
| Schreibt Andreas Maier.“ | |
| ## Beschaffungstätigkeiten fürs Überleben | |
| Auf dem Platz waren ungefähr sechzig Jahre Knast und hundert Jahre | |
| Obdachlosigkeit versammelt. Gewisse Beschaffungstätigkeiten verstehen sich | |
| von selbst, die informelle Ökonomie regelt weitgehend das Leben. Müllwerker | |
| fuhren vor, parkten ihren Riesenkarren vor dem Kiosk, leerten die | |
| Papierkörbe und bekamen dafür Heiß- und Kaltgetränke. | |
| Irgendwann saß mir E. gegenüber, Maurer in Rente, ein daseinsprächtiger | |
| Kerl, der in einem Männerwohnheim untergekommen ist. „Du musst doch | |
| ironischerweise Realist sein“, sagte er (so ein Satz fiel noch nicht mal | |
| Schopenhauer ein) und meinte: „Wenn uns der Humor genommen wird, schmeiß | |
| ich mich achtmal vom dritten Stock runter.“ | |
| Mindestens zehntausend Obdachlose gebe es in Frankfurt, sagte Lorenz. Er | |
| und P. haben es geschafft, von der Straße wegzukommen. Irgendwer schlug | |
| vor, eine Lachsteuer zugunsten der Ukraine zu erheben. P. zitierte aus | |
| „Monty Python And The Holy Grail“, und wir stiegen mit ein und lachten. | |
| Eine Frau röhrte: „Du kannst dir nur den Finger aus dem Arsch ziehen und | |
| den Wodka in die Hand nehmen!“ Um uns herum rotierten pausenlos diese | |
| Flink-, Gorillas- und Wolt-Radler. Der zugedröhnte Eisenschlosser bekannte, | |
| Angst vor Maschinen zu haben. | |
| Und plötzlich war Fred da. Ich kannte ihn nicht. Fred hat sein Augenlicht | |
| bei einem Autounfall verloren. Er nahm seinen Gitarrenkoffer vom Rücken und | |
| seine Konzertgitarre heraus und spielte drei Stunden lang Matteo Carcassi, | |
| Leo Brouwer und Francisco Tárrega, in Perfektion. | |
| Das alles soll einem die Welt erst mal nachmachen. | |
| 3 May 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Roth | |
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