# taz.de -- Die Wahrheit: Am Nullpunkt der beringten Hölle | |
> Beeindruckendes Absinkverhalten: Betrachtungen zum olympischen Geschehen | |
> und seinen Vermittlern im Fernsehen. | |
Bild: Schwenkfutter für brabbelnde Fernsehleute: Sportler in Tokio 2021 | |
Dass der Zweck Olympischer Spiele nicht zuletzt darin besteht, dem | |
Fernsehen die Gelegenheit zu geben, die weltverschlingende Allgegenwart des | |
Hochleistungssports vermöge einer gut zweiwöchigen Bild- und | |
Wortdauerkanonade zu demonstrieren, dürfte bekannt sein. Zwingend einher | |
geht damit die Regression der Wirklichkeitswahrnehmung auf die Leitideen | |
der Disziplin, des Kampfes und der angeblich naturgegebenen Konkurrenz. | |
Dass in der Fauna – Kropotkin hat es, das darwinistische Modell des Lebens | |
konterkarierend, belegt – in der Regel das Prinzip der „gegenseitigen | |
Hilfe“ obwaltet, weiß niemand mehr – oder soll kein Mensch mehr wissen. Man | |
dächte da ja an libertären Sozialismus und andere Schweinereien. | |
In dieser medialen Gegenwartshölle, in der Vitalität weitgehend in | |
stumpfsinnigen Rollenbildern beschworen wird, sinken Habitus und Sprache – | |
ebenfalls notwendigerweise – auf Halbstarkenniveau oder auf den Nullpunkt | |
herab. | |
Okay, „extrem diskutabel“ (Bernd Schmelzer, ARD) ist, warum die | |
Fußballkommentatoren in Tokio um Längen besser als die Peiniger waren, die | |
uns während der EM schikanierten, und warum mit Lea Wagner eine | |
Field-Reporterin auftauchte, die dem Auswahltrainer Stefan Kuntz nach dem | |
2:4 gegen Brasilien eine makellos geformte, vielschichtige Frage stellte. | |
Vermutlich liegt es daran, dass die Subalternen und daher intellektuell | |
weniger korrumpierten und ramponierten Leute nur randürfen, wenn kaum | |
jemand zuguckt. Das bestätigt sich bei den Randsportarten. Die begleiten | |
jene Unbekannten, die plastisch und flüssig zu parlieren vermögen. Michael | |
Kreutz goutiert beim Tischtennis eine „Rückhandbanane“, Julius Hilfenhaus … | |
medaillenverdächtiger Name – meint während des herrlich undurchschaubaren | |
Säbelfechtens: „Nicht immer bekommt der, der am lautesten schreit, den | |
Treffer, aber manchmal hilft es.“ | |
Überhaupt sollte die Gesellschaft, wenn schon „Sportifizierung“ (Adorno), | |
zum Beispiel wie eine Mischung aus Badminton und Luftpistolenschießen | |
eingerichtet sein: hie die elegante und virtuose Nutzung der Gesetze der | |
Physik, da: gar nix – außer Arm heben, gucken, Zeigerfinger bewegen. Kein | |
Schweiß, dafür charakterliche Reife: „Pistolenschützen sind ja nicht für | |
Ekstase bekannt. Das sehen Sie auch an den Gesichtern hier.“ (Tibor | |
Meingast, ZDF) | |
## Sweeter Schmarren | |
Aber auf den quotenträchtigen Hauptschauplätzen: geistiger Ruin in | |
anbetungswürdiger Konsequenz. ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein | |
findet irgendeinen infantilen Tweet-Schmarren „so sweet“. Jessy Wellmer | |
(ARD), die unermesslich blühende Jeanne d’Arc der Demontage der | |
menschlichen Rede, trägt ungehemmte Gratisaufmüpfigkeit signalisierende | |
Turnschuhe mit Regenbogenemblem und fragt ihre Allround-Experten Julius | |
Brink (ehemals Beachvolleyball) und Frank Busemann (einst Zehnkampf), die | |
von Badewannenweitwerfen bis Sandkörnerzählen offenbar sämtliche | |
Disziplinen, die gerade dahermarschieren, zu beurteilen vermögen: „Wofür | |
kann euer Feuer sich entfachen?“ Antwort Brink: „Ich find’s für den Sport | |
einfach cool, dass in Deutschland wieder so viel Sport gezeigt wird.“ Das | |
ist sie, die Message: Lasst uns so viel Shit wie möglich in den Äther | |
feuern, zur hypokritischen Feier der „olympiadischen Leistungen“ | |
(ARD-Olympiasongwriter Max Mutzke). | |
Für die Aufgabe, den Untergang des deutschen (Sport-)Fernsehens zu | |
illustrieren, optimal vorbereitet ist der unbezwingbare Béla Réthy. Schon | |
während der vierstündigen Eröffnungsfeier der „Olympiade“ (ARD-Videotext; | |
sie wissen gar nichts mehr), in deren Rahmen die tatsächlich | |
bewundernswürdige Jazzpianistin Hiromi Uehara auftrat, erspähte er einen | |
„Chefstepper“, der „die Musik selbst gehämmert“ habe, betete mit Hilfe | |
seiner schlauen Zettel tapfer Ländernamen herunter, attestierte einem | |
nordmazedonischen Taekwondo-Kämpfer, er habe es „geschafft, sich eine | |
olympische Norm zu sichern“, enthüllte über den Tenno: „Er hat sich da | |
richtig weit aus dem Ton gelegt“, und profilierte sich als Linguist | |
neuester Couleur: „‚Emoji‘ heißt ‚Bildschrift‘.“ (Früher war es d… | |
Piktogramm, das übersetzt „Bildschrift“ heißt.) | |
Dito als Hockeykommentator greift er zuverlässig zum falschen Genus und | |
serviert uns eminente Erläuterungen, etwa in Sachen Schiedsrichterkamera: | |
„Wenn er sich bewegt, wackelt das [Bild], wenn er steht, geht’s.“ Und wenn | |
kein Wind geht, rascheln die Blätter nicht. | |
Sein Pendant in diesem TV-Riesenramschladen, die ARD-Heulboje Tom Bartels, | |
schwemmt mitten in der Nacht beim Schwimmen wie eh und je schwallend die | |
letzten Erinnerungen an vor ein paar Jahren ab und an (Thomas Wark!) noch | |
vorfindlichen sprachlichen Takt weg. Ein Endlauf sei „definitiv | |
megainteressant“, er sinniert, ob der Athlet Henning Mühlleitner „jetzt | |
meganervös“ sei, kurz darauf ist der „an seiner absoluten Bestzeit dran“, | |
und am Ende „powert er noch mal richtig“. | |
## Aufgemotzte Modewörter | |
Nahezu sämtliche Damen und Herren, die die populären Disziplinen | |
übertragen, legen ein beeindruckendes „Absinkverhalten“ (Eurosport1) an den | |
Tag. Den restringierten Code, den der Sprachwissenschaftler Basil Bernstein | |
bei den sozial Abgehängten beobachtet hatte, haben sie, aufgemotzt mit den | |
immer gleichen idiotischen Modewörtern, restlos verinnerlicht. Claudia | |
Neumann („geschmeidig warm“, „Ballbehandlung höchst geschmeidig“) geht | |
beispielhaft mit der Schrotflinte auf die Sprache los und ballert alles | |
Störende weg. Übrig bleiben amputierte Sätze: „Kontrolle zeigt ein | |
Handspiel.“ – „Brasilianerinnen bleiben aber unaufgeregt.“ – „Ball … | |
gesichert.“ Woraus laut Alexander Bommes folgt: „Natürlich gilt es da, | |
total Fokus zu behalten.“ | |
Den Rest gab einem am Sonntagnachmittag die vom öffentlich-rechtlichen | |
Wegwerf-Fernsehen „supportete“ Stephanie Baczyk (ARD). Bei Saudi-Arabien | |
gegen Deutschland flogen einem die „rausgehauenen“ „Dinger“ nur so um d… | |
müden Ohren („Hat sich gleich mal überlegt, welche Linie er [der | |
Schiedsrichter] raushaut“, „der [ein Abwehrspieler] haut da einen Weg nach | |
dem anderen raus“), praktisch alles andere war „geil“: „Was war das bit… | |
für ein geiler Fight?!“ – „Was für ’n geiles Tor!“ – „Geiles Di… | |
Olympia im Deutsch-TV „muss so ’n Boost für den Kopf sein“ (Baczyk)? Nö. | |
Erschöpft schließen wir uns dem ZDF-Moderator Rudi Cerne an: „Das können | |
wir uns knicken und hier abhaken.“ | |
27 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Roth | |
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