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# taz.de -- Leben als Rentnerin: Der Sterblichkeitsschock
> Das Alter kurz vor 70 ändert alles, sagt unsere Autorin. Sie ist nun
> offiziell in Rente und arbeitet, wie viele ihrer Bekannten, teilweise
> weiter.
Bild: Haikus auf der Havel beim Paddeln ausdenken
Es ist amtlich: Ich hab seit Mai einen „Ausweis für Rentnerinnen und
Rentner“, mit blau-gelbem Logo wie die Farben der Ukraine. Mit 66 bin ich
[1][Babyboomerin auf Rente], arbeite aber noch zwei Tage in der Woche
weiter. Viele meiner Bekannten um die 70 arbeiten noch. Einige, weil sie es
wollen. Andere, [2][weil sie es müssen]. Ich sage nur: zerklüftete
Mittelschichten.
Zum Beispiel F., 68: früher soloselbstständig im Kulturbereich, jetzt lebt
er von einer Minirente plus Job auf der Tankstelle. Grundsicherung im Alter
beantragt er nicht, denn dabei wird der Nebenverdienst weitgehend
angerechnet. Oder K., 67, sie war alleinerziehend und arbeitete lange nur
Teilzeit. Sie kommt mit ihrer kleinen Rente gerade so über die Runden, sagt
sie, aber nur, wenn die Miete nicht steigt.
Who told you life is fair? Eben. Das merkt man beim Erben, auch in der
Mittelschicht. Zum Beispiel T.: Vater war im gehobenen Management, gründete
eine zweite Familie, machte Kreuzfahrten, war lange im Pflegeheim. Peng,
Erbenttäuschung bei T. und den vielen Geschwistern. L. hingegen, Ingenieur
auf Rente und Einzelkind: Die Eltern, Ärzt:innen in Stuttgart, kauften
vor Jahrzehnten zwei Immobilien. L. ist jetzt mehrfacher Millionär
geworden. Plötzlich Oberschicht! Es wäre an der Zeit, die Erbschaftsteuer
zu erhöhen und bei der Grundsicherung im Alter mehr Hinzuverdienst zu
erlauben. Hallo Politik, ist da wer?
Oft träume ich mit offenen Augen, das soll ein Symptom des Alters sein,
aber ein angenehmes. Ich habe mir ein 8-Kilo-Kajak gekauft, das ich selbst
zum Wasser tragen kann. Ich paddele über die Havel und denk mir Haikus aus,
Dreizeiler, die fünf, sieben und wieder fünf Silben enthalten müssen. Zum
Beispiel:
Ein bisschen Zukunft/
eine kleine Tüte reicht/
mit drei Bonbons drin.
## Der Typ mit der Knarre
Im Netz bin ich auf eine Gruppe aus irischen Selfmade-Buddhist:innen
gestoßen, grauhaarige, liebenswürdige Frauen und Männer um die 70, mit
denen man über impermanence rätseln kann. Es ist der Sterblichkeitsschock,
der das Alter kurz vor 70 von früheren Phasen unterscheidet, von der Phase
um die 50, der „Huch, meine-Falten! Ich werde unsichtbar!“-Phase.
Der Sterblichkeitsschock setzt ein, wenn liebe Menschen derselben
Altersgruppe, mit denen man sich identifizierte, ins Nichts verschwinden.
Das könnte ja ich sein! Es ist so, als hätte ich mich wegen meiner
Halsfalten gegrämt, aber plötzlich taucht ein Typ mit Knarre vor mir auf
und fuchtelt damit vor meiner Nase herum. Und geht nie mehr weg. Vergessen
sind die Halsfalten. Die Knarre verändert alles.
Ich sitze auf meiner Lieblingsbank auf dem Tempelhofer Feld. Die ältere
Lady mit den Kämmchen im Haar zieht mit ihrem Handwagen vorbei, darin
klappern Pfandflaschen. Ich grüße rüber. Wo sie wohl wohnt? Es stimmt
nicht, dass alte Frauen unsichtbar werden. Kommt immer drauf an, wer
schaut.
21 Sep 2022
## LINKS
[1] /Hoeheres-Renteneintrittsalter/!5870759
[2] /Altersarmut-in-Berlin/!5877986
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Kolumne In Rente
Rente
Rentenpolitik
Senioren
Mode
Wohnen
Energiekrise
Fachkräftemangel
Ganztagsbetreuung
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