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# taz.de -- Energiekrise in Deutschland: Stresstest für die Grünen
> Dass Wirtschaftsminister Robert Habeck zwei AKW in Reserve halten will,
> müssen einige Grüne erst mal verdauen. Zum Aufstand kommt es aber nicht.
Bild: Das Hintertürchen AKW-Laufzeitverlängerung steht offen
Berlin/ Hannover taz | Euphorisch ist Asta von Oppen am Dienstag nicht.
„Wir haben so lange auf den 31. 12. als Termin für den Atomausstieg
hingearbeitet. Dass er aufgeweicht wird, ist bitter“, sagt sie. Man kann
von Oppen als Urgestein der Anti-Atom-Bewegung bezeichnen: 1977
demonstrierte die Wendländerin erstmals gegen das Endlager in Gorleben,
seitdem kämpft sie als Aktivistin gegen die Kernkraft, nebenbei ist sie
auch noch bei den Grünen aktiv – als Koordinatorin einer Basisgruppe zur
Atompolitik. [1][Dass Vizekanzler Robert Habeck die Lebenszeit zweier
Kraftwerke verlängern] und sie über das Jahresende hinaus in der Reserve
halten will, muss sie erst mal verdauen.
Einerseits. Andererseits: Immerhin werde erst mal nichts aus dem
Streckbetrieb. Immerhin habe Habeck klargemacht, dass er über den Winter
hinaus nicht am Ausstieg rütteln werde. Und immerhin hätten ihm Union und
FDP ordentlich Druck gemacht. „Wir werden die Kröte Reservebetrieb
wahrscheinlich schlucken“, sagt von Oppen. Für den Parteitag Mitte Oktober
hatte ihr Arbeitskreis einen Antrag gegen Kompromisse bei der Atomkraft
vorbereitet. Was sie nun damit machen, müssen die Mitglieder erst noch
beraten. Auf volle Breitseite gegen Habeck und die Parteispitze wird es
aber kaum rauslaufen.
Zwar gibt es auch Basismitglieder, die am Dienstag wütender klingen als von
Oppen. Wieder andere sind sich noch nicht sicher, was sie von der neuesten
Volte halten sollen – schließlich liegt der Vorschlag des Reservebetriebs
erst seit Montagabend auf dem Tisch. Dennoch: Der große Show-Down bei den
Grünen, für den Fall von Zugeständnissen beim Atomausstieg von vielen
vorhergesagt, könnte ausfallen.
Es hätte anders ausgesehen, wenn die Spitzen-Grünen aus dem Ergebnis des
Atom-Stresstests die Notwendigkeit abgeleitet hätten, die drei verbliebenen
deutschen Kraftwerke ohne Wenn und Aber länger am Netz zu lassen. Robert
Habeck selbst hätte mit so einem Streckbetrieb womöglich keine großen
Probleme gehabt. Seine Grünen hätten ihm aber – anders als bei anderen
unbequemen Entscheidungen der letzten Monate – die Gefolgschaft versagen
können.
## Skepsis hinter den Kulissen
Während des Wartens auf das Stresstestergebnis grummelte schließlich nicht
nur die Parteibasis. Prominente Grüne wie Jürgen Trittin sprachen sich
öffentlich gegen längere Laufzeiten aus. Hinter den Kulissen klangen auch
andere Spitzen-Grüne skeptisch. Der Kompromiss namens Reservebetrieb
dagegen sorgt jetzt für wenig Aufregung.
Mit der Fraktions- und Parteiführung war der Vorschlag ohnehin abgestimmt.
Als Habeck am Montagnachmittag auch die grünen Bundestagsabgeordneten
informierte, war deren Reaktion überwiegend verständnisvoll. In einer
Videokonferenz mit Landes- und Europapolitiker*innen am gleichen
Tag gab es dem Vernehmen nach etliche fachliche Nachfragen, aber ebenfalls
keinen Aufstand. Die Stimmung wird als konstruktiv bezeichnet. Öffentliche
Einwände gegen den Reserveplan aus den eigenen Reihen? Fehlanzeige.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die
Kraftwerke aus der Reserve tatsächlich wieder hochgefahren werden, sehr
gering ist. Der Bundestag stimmt dem Modell zufolge dem Weiterbetrieb nur
für den Fall zu, dass Extrembedingungen wirklich eintreten und die
Netzstabilität konkret gefährdet ist. Beim Streckbetrieb hätte er dagegen
einen Freifahrtschein ausgestellt; die AKWs hätten auch dann weiterlaufen
können, wenn der Worst Case gar nicht erfüllt ist. Dass dieses Szenario
abgewendet ist, reicht vielen Grünen jetzt aus.
Während der Kompromiss nach innen den Frieden wahrt, sorgt er allerdings
von außen für Ärger. Einerseits von den Umweltverbänden: Der Reservebetrieb
sei „unnötig und ignoriert Sicherheitsrisiken“, sagte am Dienstag BUND-Chef
Olaf Bandt. Seine Organisation prüft jetzt rechtliche schritte. Von der
anderen Seite schießen sich Atomkraft-Befürworter*innen weiter auf die
Grünen ein.
## Union ganz nah an den Liberalen
Sogar innerhalb der Ampel: [2][Der FDP geht die Habeck-Lösung lange nicht
weit genug.] Sie fordert einen Weiterbetrieb aller drei AKWs bis mindestens
2024. Habeck müsse sich „gegen die Ideologen in seiner Partei durchsetzen“,
schrieb Bundestagsfraktionsvize Konstantin Kuhle auf Twitter. Fraktionschef
Christian Dürr betonte mehrfach, dass ein Weiterbetrieb nötig sei, um den
Strompreis zu senken.
Ganz nah sind die Liberalen damit bei ihrem ehemaligen Lieblingspartner,
der Union. Auch sie kritisiert Habecks Entscheidung erwartungsgemäß scharf.
Der Vorwurf: ideologiegetriebene Politik. „Deutschland steuert auf eine
massive Energieversorgungskrise zu, ausgelöst durch den Krieg in der
Ukraine, verschärft durch völlig absurde Entscheidungen dieser
Bundesregierung“, sagte Parteichef Friedrich Merz im Deutschlandfunk. Der
Vizekanzler habe „um sich drumherum im Ministerium und in seiner Partei
eine Gruppe von harten, grünen Ideologen, die – koste es, was es wolle –
aus der Atomenergie aussteigen wollen.“
All das hat sicherlich auch mit Niedersachsen zu tun. Dort wird im Oktober
ein neuer Landtag gewählt. Nirgendwo sonst sind die Grünen so tief in der
Anti-AKW-Bewegung verwurzelt wie hier. Kaum ein anderer Landesverband sah
einen möglichen Streckbetrieb so kritisch.
Union und FDP orakeln nun, es sei dem Wahlkampf der Grünen geschuldet, dass
das AKW Emsland im niedersächsischen Lingen anders als die Kraftwerke Isar
2 und Neckarwestheim 2 dauerhaft vom Netz gehe und nicht in den
Reservebetrieb.
## Lieblingsthemen im Wahlkampf
Dabei gibt es durchaus inhaltliche Gründe. Auf die verweist umgehend der
amtierende SPD-Ministerpräsident Stephan Weil: Wenn der Stresstest zeige,
dass die Versorgungsengpässe im Süden drohten, sollten sie auch dort
kompensiert werden – Niedersachsen sei eben bei den Erneuerbaren Energien
deutlich besser aufgestellt als Bayern oder Baden-Württemberg. Lingen
müsste ohnehin schon im November in den Streckbetrieb gehen, weil die
Brennstäbe nicht weiter reichen.
Doch auch die niedersächsische FDP scheint nicht bereit zu sein, eines
ihrer Lieblingsthemen im Wahlkampf einfach so ziehen zu lassen. Als „nicht
nachvollziehbar“, bezeichnet Spitzenkandidat Stefan Birkner die
Entscheidung gegen das AKW Emsland. Der geplante Notbetrieb sei
unrealistisch und technisch nicht machbar. Nötig seien
Laufzeitverlängerungen für alle drei AKW auch im Hinblick auf die
Preisentwicklung.
Auf die Preise habe der Weiterbetrieb kaum einen nennenswerten Einfluss,
konterte die Grünen-Spitzenkandidatin Julia Willie Hamburg. Abgesehen davon
bemüht auch sie sich jetzt erkennbar, der eigenen Basis den Habeckschen
Lösungsvorschlag schmackhaft zu machen – und ihn gleich noch ein Stückchen
kleiner zu reden: Nur „unter extremen, sehr unwahrscheinlichen
Voraussetzungen könnte die Netzstabilität in Süddeutschland gefährdet
sein“, sagt sie. Zwei Kraftwerke in Reserve zu halten sei eine
verantwortliche Vorsorge, „wenngleich wir sie am Ende sehr wahrscheinlich
nicht brauchen werden“.
6 Sep 2022
## LINKS
[1] /Laufzeitverlaengerung-der-Atomkraftwerke/!5879141
[2] /Nach-Habecks-AKW-Vorschlag/!5879140
## AUTOREN
Tobias Schulze
Nadine Conti
Jasmin Kalarickal
Sabine am Orde
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