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# taz.de -- Die Wahrheit: Es hat sich ausgehartzt!
> Eine Sensation: Hartz IV ist ungerecht und am Ende. Es folgt das
> freiwillige Soziale Deutschlandjahr. Und das ist Pflicht. Ein Report.
Max Höfer ist begeistert. Er flaniert durch die Reihen der reinweiß
leuchtenden Wohncontainer, streicht zärtlich über die frisch lackierten
Oberflächen. Hier werden sehr bald mehr als zehntausend Menschen einziehen.
„Das ist die Zukunft! Und das ist das Ende von Hartz IV“, ruft der
61-jährige, schlaksige Vorarbeiter des Bundesarbeitsministeriums
enthusiastisch. Denn Hartz IV sei zutiefst ungerecht. Menschen einfach so
und ohne Gegenleistung Geld geben? Höfer schüttelt den Kopf. Deshalb habe
sich jetzt eine große bundespolitische Querfront aus FDP-Finanzminister
Lindner, SPD-Arbeitsminister Heil und dem CDU-Oppositionsführer Merz ein
neues, gerechteres und wirtschaftlicheres Sozialsystem ausgedacht.
„Dazu hat der ehemalige Hamburger Bürgermeister Scholz in seinem Aufruf zu
einer konzertierten Aktion ja auch, äh also, Scholz hat dazu aufgerufen“,
betont Höfer und schlendert weiter durch die langen Reihen leuchtender
Wohncontainer.
„Zunächst“, erklärt er, „entfällt diese ganze Verwaltung. Dieser
Antragswahn, die Bearbeitung, die ständige Beaufsichtigung der
Arbeitslosen.“ Ende des Jahres werde Hartz IV dann eingestellt, fährt Höfer
fort. Transferleistungsbezieher würden dann automatisch ins „freiwillige
Soziale Pflichtjahr“ transferiert.
## Beheizbare Kleinhütten
„Dafür gibt es dann“, erklärt der engagierte Vorarbeiter des
Bundesarbeitsministeriums in Berlin, „die Soziale Krisenbedingte
Lohn-Alternativ-Vergütung – kurz S.K.L.A.V. Alle, alle, also Arbeitslose,
HartzIVler, Rentner, FSJler, ja, sogar Flüchtlinge und Asylsuchende – alle,
ja jeder und jede werden zu freiwilligen Arbeitsdiensten eingeteilt. Geld
wird dafür keins ausbezahlt, denn dafür übernimmt der Staat Unterkunft und
Essen. Gewohnt wird dann sehr komfortabel in diesen modernen, kleinen,
flexiblen Einheiten im Tiny-House-Stil, die im Winter sogar beheizbar
sind.“ Wer möchte, so Höfer, könne selbstverständlich in seiner eigenen
Wohnung bleiben. Wir werfen einen Blick durch ein offenes Fenster in eine
der Unterkünfte. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, ein Schrank – das war’s.
„Hell, freundlich, pflegeleicht und feuersicher“, ruft Höfer, der seit üb…
vierzig Jahren im Arbeitsministerium tätig ist, „wie in meinem kleinen
Büro. Aber wem das zu einsam ist, der oder die kann natürlich auch in
Gemeinschaftsunterkünften in großen, luftigen Mehrbettschlafzimmern
unterkommen. Für zwanzig bis hundert Personen ist alles dabei.“
Das Problem, so Höfer, während wir weitergehen, sei doch die Inflation, die
bewirkt, dass Menschen sich das Wohnen und Essen nicht mehr leisten können.
Der Staat sorge jetzt endlich dafür, dass die Preise nicht noch weiter
stiegen. Durch Steuersenkungen?, fragen wir messerscharf.
„Haha, das wäre ja noch schöner“, sagt Höfer. „Nein. Nur Lohnstabilit�…
bringt Preisstabilität. Verzicht aber ebenfalls. Wir sind mittlerweile mit
sämtlichen Gewerkschaften im intensiven Gespräch, damit die auf
Lohnerhöhungen und Streiks verzichten. Überhaupt auf so einen Kokolores wie
Tarifverhandlungen“, resümiert der drahtige Best Ager.
„Was wir jetzt brauchen, ist ein Einfrieren des derzeit hohen Lohn- und
Gehaltsniveaus. Aber damit die Preise sinken können, müssen auch die Löhne
und Gehälter sinken. Das regelt der Markt“, prophezeit Höfer optimistisch,
ja nachgerade überzeugt. „Die Löhne auf dem ersten Arbeitsmarkt werden sich
anpassen, sobald unsere neue S.K.L.A.V., also unsere tolle Soziale
Krisenbedingte Lohn-Alternativ-Vergütung gestartet ist.“
„Also doch wieder Hartz IV, durch die Hintertür“, werfen wir ein. „Nee,
nee“, antwortet Höfer und lacht, „das ist alles andere als Hartz IV. Bei
Hartz IV gibt es Sanktionen, bei der Sozialen Krisenbedingten
Lohn-Alternativ-Vergütung ist alles, aber auch alles gänzlich freiwillig.“
## Vorbild aus Hollywood-Film
Die Idee zum sozialen Pflichtjahr „mit dem etwas sperrigen Titel“, erklärt
uns Höfer begeistert, „die hatte Minister Lindner, als er einem Film von
Steven Spielberg sah“. Der Held des Films, ein mittelständischer
Unternehmer, der Blechgeschirr produziert, beschäftigt kostenlose
Arbeitskräfte bei sich, für die er viel tut.
„Das hat Deutschland damals in der Krisenzeit sehr geholfen. Es war ja auch
Krieg mit Russland“, sagt Höfer und sieht Parallelen. „So wie heute.“ Er
setzt sich auf eine reinweiß lackierte Bank, die an einer Wegkreuzung
zwischen den Containern steht. In einem Holzkübel daneben kümmert ein
kleines Bäumchen vor sich hin. Höfer schaut sich um, so langsam müsse er
zum Ausgang zurück, meint er.
„Ist das nicht Sklaverei?“, wenden wir ein.
„Nein, Sklaverei klingt so negativ nach Baumwollfeldern, Peitschen und
Rassismus. Unser Plan sieht überhaupt keine einzige körperliche Strafe vor.
Das Soziale Deutschlandjahr ist total freiwillig!“, betont Vorarbeiter
Höfer erneut und vehement. „Und Arbeitsdienst, das heißt ja nicht
automatisch Arbeiten im Steinbruch. Da gibt es ja ganz viel zu tun – in der
Pflege, Lehre, Müllentsorgung, bei Liefer- und Paketdiensten, auch
Büroarbeit – gerade in den Ämtern …“
Auf der anderen Seite seien mit dem S.K.L.A.V.-Programm weitreichende,
frühere Pläne wie die Verlängerung der Wochenarbeitszeit oder eine Rente ab
siebzig Jahren wirklich dauerhaft vom Tisch. Beides werde dann im
freiwilligen Sozialen Deutschlandjahr äußerst flexibel gehandhabt. Und der
Begriff „Jahr“, so Höfer, sei ohnehin „metaphorisch“ gemeint.
„Es wird halt so lange gearbeitet, bis alles erledigt ist!“ Das
S.K.L.A.V.-Programm werde bestehen, bis es Deutschland wieder
wirtschaftlich besser gehe. Und ob das dann der Fall sei, entscheide die
Regierung: „Wenn die Pandemie vorbei ist. Wenn die Lieferketten wieder
intakt sind. Wenn die Preise wieder stabil sind. Wenn Putin den Krieg
beendet und sich das Klima wieder auf Normaltemperatur eingependelt hat.
Hätte, wenn und aber, alles nur Gelaber“, lacht der engagierte Vorarbeiter,
bis er sich krümmt.
Ein wenig erschöpft erhebt sich Max Höfer schließlich von seiner reinweiß
gestrichenen Bank, geht ein paar Schritte und wendet völlig überraschend.
Dann schlägt er die entgegengesetzte Richtung ein. „An der Ausschilderung
müssen wir noch arbeiten“, winkt er zum Abschied.
3 Sep 2022
## AUTOREN
Michael-André Werner
## TAGS
Hartz IV
Sozialleistungen
Arbeitsvermittlung
Halloween
Vegetarismus
Schwerpunkt Klimawandel
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Die Wahrheit
Party
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