# taz.de -- Die Wahrheit: Kanonen für Liebesbriefe | |
> Die gute alte Post hat kaum noch etwas zu tun und geht deshalb ganz neue | |
> Wege bei der Zustellung des Sendeguts. | |
Bild: Bei Wind und Wetter kommt garantiert jeden Tag der Briefträger – das w… | |
Gernulf Möller fährt mit seinem Post-Lasten-Bike vor dem Haus Nummer 4 im | |
Norden Hamburgs vor, klappt den Fahrradständer aus und geht zu den | |
Briefkästen des Mietshauses. Zwanzig Parteien wohnen hier. Heute wirft der | |
drahtige 55-Jährige mit dem löchrigen Vollbart nur Werbung und einen | |
privaten Brief ein, dann fährt er zum nächsten Haus. Dort sieht es nicht | |
besser aus. | |
„Ja, die Briefe werden von Tag zu Tag weniger“, sagt Möller. „Das ist sc… | |
traurig. Dafür bin ich vor 30 Jahren nicht Briefträger geworden.“ | |
Vielleicht wird er es nicht mehr lange bleiben. Die Deutsche Post AG baut | |
Personal ab. | |
Dass seine Stelle auf der Kippe steht, ist Möller bewusst, deshalb schreibt | |
er seit drei Jahren jeden Abend Briefe an die Kunden und Kundinnen in | |
seinem Zustellgebiet, damit er immer etwas zu tun hat. Es sind keine | |
langen, keine wichtigen Briefe, auch schreibt er immer ohne Absender, damit | |
seine Masche nicht auffliegt, trotzdem geht es allmählich ins Geld, rund | |
zwanzig Prozent seines Gehalts investiert Möller in den Erhalt seines | |
Berufes. | |
„Gerade zum Jahresbeginn hat die Post wieder das Porto erhöht“, klagt | |
Möller, „zwar nur um fünf Cent, aber trotzdem. Und kostendeckend wird das | |
Porto ja trotzdem nicht.“ Möller spielt mit dem Gedanken, nur noch | |
Postkarten zu schreiben. | |
## Zustellung nicht mehr jeden Tag | |
Nein, es rentiert sich nicht mehr, Briefe zuzustellen. Immer wieder tauchen | |
Pläne auf, dass bald nicht mehr an jedem Wochentag ausgeliefert werden | |
soll. Ein Tag oder zwei können wegfallen, in Frankreich etwa gibt es das | |
schon. Der Montag zum Beispiel. Und der Freitag. Vielleicht der Mittwoch. | |
Oder Dienstag und Donnerstag. Erste Auswirkungen sind schon zu spüren. | |
„Ich“, sagt Peter Paul vom Bund Deutscher Briefempfänger (BDB), „kriege … | |
nur noch einmal in der Woche Post. Und wenn ich nicht weiß, wann und wie | |
oft überhaupt noch Briefe ausgeliefert werden, schicke ich natürlich auch | |
kaum noch welche. Nur das Wichtigste eben. Und wenn’s eilig ist, schicke | |
ich lieber eine E-Mail oder rufe an.“ | |
Tatsächlich sinkt das Briefaufkommen. Das merkt auch Kai Stender, | |
stellvertretender Pressesprecher der Abteilung Brieflogistik der Deutschen | |
Post: „Die meisten Briefe, die wir zustellen, sind Infopost, also Werbung. | |
Ohne Werbung könnte die Post dicht machen. Behördenbriefe werden mit der | |
Konkurrenz verschickt. Und dann werden immer mehr offene Briefe | |
geschrieben, die auf dem klassischen Postweg gar nicht mehr zugestellt | |
werden müssen.“ Darum will die Deutsche Post jetzt stärkere Geschütze | |
auffahren. | |
„Briefkanonen“, sagt Kai Stender, „damit schießen wir die Briefe zu den | |
Kunden. Nein, kleiner Scherz, das machen wir natürlich nicht, das ist viel | |
zu teuer. Sie glauben ja nicht, wie viel die Munition kostet. Außerdem ist | |
es nicht umweltfreundlich. Und wenn wir mit so einem Liebesbrief auch nur | |
einen Spatzen treffen, kriegen wir wieder Ärger mit dem Tierschutz.“ | |
Hat die Post andere Pläne, um das Briefeschreiben attraktiver zu machen, | |
fragen wir den halbsmarten Postler. | |
## Kein Zustellung ist gut für die Umwelt | |
„Na ja, attraktiver“, sagt Kai Stender. Der blasshäutige Mittzwanziger | |
wiegt bedächtig den Kopf auf seinem zu dünnen Hals, „das würde ich so jetzt | |
nicht formulieren. Wir werden zum Jahresende die Briefzustellung | |
wahrscheinlich ganz einstellen. Das ist effizienter und kostenneutraler und | |
gut für die Umwelt.“ | |
Drei Pläne stehen derzeit intern zur Debatte, die Stender uns in einem | |
Konzeptpapier schnell über den Tisch leakt. | |
Zum einen werden Briefe den Kunden nicht mehr einzeln zugestellt, sondern | |
im Briefzentrum gesammelt und dann einmal in der Woche in ein Päckchen | |
gepackt und zum Kunden geschickt. | |
Mit DHL? | |
„Nee, zu teuer“, lacht Stender auf. „Wir übergeben die Briefpakete an | |
Amazon. Die sind ja sowieso jeden Tag überall, weil jeder bei denen | |
bestellt und Pakete bekommt. Da ist es wirtschaftlicher, die Briefe einfach | |
dazuzupacken.“ | |
Zum anderen bekommt jeder Kunde „einfach ein Postfach gestellt und kann | |
dann seine Post abholen, wann immer er will – innerhalb der Öffnungszeiten | |
natürlich“, erklärt Kai Stender. | |
Aber werden die Postfilialen dann nicht haltlos überrannt? | |
## Ohne Zustellung mehr Effizienz | |
„Haha“, sagt Stender, „die Postämter machen wir ja auch gerade alle zu. … | |
Postfächer sind natürlich da, wo die Briefe ankommen und sortiert werden – | |
in den Briefzentren. Das spart Wege, ist effizienter und | |
umweltfreundlicher.“ Zumindest für die Post, denn die Briefzentren liegen | |
am Stadtrand oder ohne Bahnanbindung im ländlichen Raum zwischen Kaufland | |
und Möbel Roller. | |
„Aber das lässt sich wunderbar mit einem Wochenendbummel verbinden oder | |
einem Besuch bei einem der vielen Erdbeerhöfe draußen auf dem Land“, sagt | |
Kai Stender, „da bin ich selbst immer gern.“ | |
Und Plan Nummer drei? | |
„Das ist mein Lieblingsplan. Brandneu. Und er ist mir selbst eingefallen: | |
Bald gibt es ja das 9-Euro-Ticket. Da kann dann einfach jeder selbst | |
hinfahren und den Brief zustellen. Das ist auch gut für die Umwelt.“ | |
Gernulf Möller hat Feierabend. Er muss nach Hause, noch ein paar Briefe | |
schreiben. Wenn seine Kunden weiterhin Post bekommen, bleibt sein Job noch | |
eine Weile erhalten. Glaubt er. Denn er kennt die Pläne von Kai Stender | |
noch nicht. Und wir wollen ihm heute seine gute Laune nicht verderben. Das | |
wird er noch früh genug in der Zeitung lesen. Wenn sie denn ankommt … | |
24 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Michael-André Werner | |
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