# taz.de -- Die Wahrheit: „Wird Schröder verhaftet …?“ | |
> Der neue Nebenverdienst: Ein Brandenburger Party-Paywaller plaudert aus | |
> dem Nähkästchen eines lukrativen Geschäftszweigs. | |
Bild: Smalltalk auf der Party – Auftritt Paywaller | |
„Und dann sagte er …“, Frank Schuster unterbricht sich, macht eine Pause, | |
um an seinem Bier zu nippen, dann schaut er seine Gesprächspartner an und | |
sagt: „Wenn ihr mehr wissen wollt, würde ich euch bitten, ’ne Kleinigkeit | |
zu spenden, so fünf Euro.“ | |
Die Umstehenden sind überrascht. Aber nach einem kurzen Moment holt doch | |
der eine oder andere sein Portemonnaie aus der Tasche und zieht einen | |
Schein heraus. Mit Münzen wird selten gezahlt, das klappert zu sehr im | |
Pappbecher, den Schuster den Umstehenden hinhält. | |
Frank Schuster ist Paywaller. Der 31-Jährige stockt seinen kargen Verdienst | |
als Zerspanungsmechatroniker bei Tesla in Brandenburg damit auf, Fremde auf | |
Partys in interessante Gespräche zu verwickeln und dann an der spannendsten | |
Stelle abzubrechen und nur gegen Geld weiterzuerzählen. Eine seltsame Idee, | |
mögen manche denken und auch moralisch eher nicht sehr fein. Kapitalismus | |
in seiner Reinform. Und auch etwas, was eigentlich nicht funktionieren kann | |
in unserer aufgeklärten, kritischen Welt. | |
Zudem herrscht immer noch eine allgemeine, von Internet-Usern verbreitete | |
Umsonstmentalität. „Reagieren die Mitmenschen nicht mit Unverständnis?“, | |
fragen wir den gemütlich aussehenden, wohlgenährten Rotschopf. Wir haben | |
uns auf einer Party in Berlin-Neukölln mit ihm verabredet, privat hat er | |
keine Zeit, sich mit uns zu treffen. | |
## Paywall wie bei der Zeitung | |
„Das dachte ich auch zuerst, als ich damit anfing, aber die Leute kennen | |
Paywalls ja aus dem Internet. Alle großen Zeitung und Zeitschriften haben | |
das eingeführt – und es funktioniert. Von den ganzen Streaming-Diensten | |
ganz zu schweigen: Netflix, Sky oder Amazon, klar zahlen die Leute. Ich bin | |
ja nicht die Mediathek der Öffentlich-rechtlichen.“ | |
Anfangs sei es schon schwierig gewesen, gibt Schuster zu. Tatsächlich waren | |
die Erlebnisse, von denen er berichtete, nicht gerade spannend, und manche | |
Leute wollten hinterher deshalb ihr Geld zurück. Aber im Laufe der Zeit hat | |
er gelernt, die Storys dramatischer darzubieten, sie ein wenig | |
auszuschmücken und auszubauen und hier und da Erlebnisse von Freunden und | |
Bekannten einfließen zu lassen. | |
„Geschichten zu erzählen, ist ja auch eine Performance-Kunst. Früher hat | |
man am Lagerfeuer beieinander gesessen und sich die neuesten Neuigkeiten | |
aus aller Welt erzählt. Jeder, der dazu kam, musste entweder auch eine | |
Geschichte beisteuern oder was zu Essen mitbringen, schon damals gab es | |
nichts umsonst. Heute ist es eben Geld.“ | |
Meist fängt Schuster seine skurrilen Geschichten, die er als selbst erlebt | |
verkauft, mit einfachen Floskeln an wie „Ihr werdet nicht glauben, was mir | |
neulich passiert ist …“ oder „Wenn ich euch das erzählt habe, werdet ihr | |
nicht mehr gut schlafen können“ oder „Die folgende Geschichte wird euer | |
Leben verändern. Meins hat sie jedenfalls verändert“. Binsen, die man als | |
Clickbait-Überschriften aus dem Internet kennt. | |
„Manchmal stelle ich auch einfach Fragen. Das machen die von der | |
Springer-Presse ja gern: ‚Hat Angela Merkel jetzt endlich Zeit, ein Kind zu | |
adoptieren?‘ oder ‚Wird Gerhard Schröder demnächst verhaftet?‘“ Wir | |
spoilern an dieser Stelle einmal: Nein. Und nein. | |
Frank Schuster ist heute mit Tobi Schneider unterwegs, die beiden gehen oft | |
gemeinsam auf Partys. Sie haben sich auf einer kennengelernt. Tobi | |
bewundert Frank und beneidet ihn um sein Können. „Ich könnte das nicht“, | |
sagt Schneider, „so spannende Geschichten zu erzählen.“ | |
## Übernahme des Smalltalks | |
Der nadeldünne und baumlange Mittzwanziger hat eine andere Masche auf | |
Partys. Meist steht er eine Weile bei Gästen und hört ihrem Smalltalk zu. | |
Wenn es dann interessant wird oder wenn er merkt, dass sich die Beteiligten | |
füreinander interessieren, mischt er sich ein, übernimmt das Gespräch und | |
redet so lange über andere Dinge, bis er dafür bezahlt wird, dass er | |
aufhört und das Gespräch wieder freigibt. Tobi Schneider nennt sich | |
Gesprächs-Napper, er ist die Ransomware für jede Party. | |
So haben sich die beiden kennengelernt. Manchmal arbeiten sie auch | |
zusammen. Zuerst beginnt Schuster ein spannendes Gespräch, dann bricht er | |
ab, lässt sich bezahlen, und wenn er dann weitererzählt, übernimmt | |
Schneider, bis die Gäste noch mal bezahlen. „Ich nehme aber auch | |
Naturalien“, sagt Schneider und grinst. „Essen, Kleidung, auch mal ein | |
Frühstück mit vorheriger Übernachtung.“ | |
„Apropos Frühstück. Neulich ist mir was ganz Merkwürdiges passiert …“,… | |
Frank Schuster und nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Dann schweigt er, | |
schaut sich um, lauscht der Musik aus dem Wohnzimmer und wendet sich dann | |
wieder uns zu. „Was ganz Merkwürdiges. Sie würden gar nicht glauben, wie | |
merkwürdig …“ | |
Es dauert einen Augenblick, bis wir begreifen, dann stecken wir ihm | |
unauffällig ein paar kleine Scheine zu. | |
27 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Michael-André Werner | |
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