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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Aus anderer Perspektive
> Der Krieg bringt die unterschiedlichen Realismen im Westen und Osten der
> EU zum Vorschein. Die Betrachtungsweisen sind für mögliche Lösungen
> wichtig.
In Neuruppin, einer Kleinstadt nördlich von Berlin, versuchte Bundeskanzler
Olaf Scholz kürzlich fast eine Stunde lang, die Politik seiner Regierung zu
erklären. Die versammelte Menge wollte jedoch nicht hören, was der Kanzler
zu sagen hatte. Die Leute pfiffen, buhten und das war nicht das erste Mal.
Ob es um Gaspreise oder um deutsche Waffen für die Ukraine ging, immer
stand der im Februar dieses Jahres von Wladimir Putin ausgelöste Krieg im
Mittelpunkt.
Einige Beobachter führen den lauten Unmut auf den zurückhaltenden und
unsicheren Stil des Kanzlers zurück. Die Gründe könnten indes tiefer
liegen: in den kollektiven Emotionen. Dabei dreht es sich um die wachsende
Angst davor, in was für einer Welt wir morgen leben werden, angesichts des
aggressiven Krieges, der sich direkt an der Ostgrenze der Europäischen
Union abspielt. Diese Angst ist in allen Ländern des Alten Kontinents
allgegenwärtig.
Die Art der Angst ist jedoch in den verschiedenen Ländern und Gebieten
unterschiedlich. „Ich denke jeden Tag darüber nach. Sie könnten jederzeit
kommen und uns in unseren Betten töten“, sagt ein polnischer Bürger über
die Möglichkeit, dass russische Truppen die Staatsgrenze verletzten
könnten. Im April 2022 äußerten 84 Prozent der Polen die Sorge, dass der
Krieg auf das Gebiet ihres Landes übergreifen könnte. Die gleichen
Befürchtungen gibt es in den baltischen Ländern und Finnland.
Die Mehrheit der Menschen in Osteuropa kennt die Geschichte aus der
Literatur. Und durch Filme wie zum Beispiel Andrzej Wajdas „Der Kanal“
(1956), eine Geschichte der Warschauer Aufständischen von 1944, die in den
Abwasserkanälen unter Warschau von deutschen Soldaten getötet wurden, ohne
dass die sowjetische Armee auf der anderen Seite der Weichsel zu Hilfe kam.
Der Film, der in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde,
hat die kollektive Vorstellungskraft weiter Teile der polnischen
Bevölkerung geprägt.
## Die Vergangenheit lebt wieder auf
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, mit Szenen von zerstörten Städten,
von Mord und Vergewaltigung, lässt diese Vergangenheit wieder lebendig
werden. Diese Erfahrung wird aber von den westlichen Europäern nicht
vollständig geteilt. Die russische Aggression gegen die Ukraine hat die
demokratischen Staaten zwar geeint. Das letzte Gipfeltreffen der
Nato-Mitglieder endete mit wichtigen Entscheidungen, darunter die
Erweiterung des Bündnisses um Schweden und Finnland und die Stationierung
weiterer US-Truppen in Polen.
Die EU hat sich auf eine Reihe von Sanktionen gegen Russland geeinigt.
Dennoch bleiben große Unterschiede in der Betrachungsweise des Krieges
allzu offensichtlich. Für Russlands direkte Nachbarn ist der Gedanke, dass
auch die Ukraine in die Nato aufgenommen werden sollte, etwas
Selbstverständliches. Zumindest sollte der Weg dafür offen sein, wie es bei
der [1][Mitgliedschaft in der EU] der Fall ist.
Für die westlichen Nato-Mitglieder ist dies hingegen eine eher
unrealistische Aussicht, ein unverantwortlicher Vorschlag. In der Tat
konkurrieren hier zwei Realismen miteinander: der Realismus des Ostens,
also der Länder, die nicht nur im 20., sondern schon im 18. und 19.
Jahrhundert unter russischer Besatzung standen, und der Realismus des
Westens, der Länder, die diese Erfahrung nicht teilen. Bisweilen haben
diese Realismen Berührungspunkte, doch oft schließen sie sich gegenseitig
aus.
## Angst vor regionaler Ausweitung
Die Unterschiede machen sich aktuell vor allem in der Bewertung des Krieges
deutlich. Für die westlichen Europäer betrifft der Krieg vorerst nur die
Ukraine. Wladimir Putin geht es demnach um die Besetzung eines
Nachbarlandes und die Ausbeutung seiner Ressourcen. Natürlich sei das eine
unbestreitbare Tragödie für die dort lebenden Menschen, aber Putin dürfe
nicht zu einer Eskalation provoziert werden, denn dann könnte sich der
Konflikt auf Europa und womöglich die ganze Welt ausweiten und sogar zu
einem Atomkrieg eskalieren.
Das pazifistische Argument, dass es angesichts der Grausamkeiten des
Krieges für die Ukraine ohnehin besser wäre, ihre östlichen Gebiete
aufzugeben, gewinnt in letzter Zeit zunehmend an Boden. In Polen und den
baltischen Staaten ist die vorherrschende Meinung hingegen, dass es in
diesem Krieg nicht nur um die Ukraine geht. Kein isoliertes Ereignis,
sondern ein Prozess, der in den 1990er-Jahren während des brutalen
[2][Krieges in Tschetschenien] angefangen hat. Dann kamen Georgien und die
Annexion der Krim.
Es ist ein Prozess der kontinuierlichen Erweiterung des russischen Reiches
mit dem Ziel, den verlorenen Einfluss Moskaus zurückzugewinnen, wie es
übrigens auch Putin einräumte, als er sich selbst mit Zar Peter der Große
verglich. Russlands imperialistisches Verhalten sollte gestoppt werden.
Weder die Nato noch die EU könnten hier eine Eskalation herbeiführen, denn
– so der Standpunkt – die Eskalation dieses Krieges ist bereits im Gange
und muss entschlossen bekämpft werden.
Die unterschiedlichen Betrachtungen führen also zu unterschiedlichen
Argumentationsweisen, wenn es um die bestmögliche Lösung des Konflikts
geht. Viele Menschen mussten sich verwundert die Augen reiben, als sie
sahen, wie die Länder Mittel- und Osteuropas Millionen von Flüchtlingen
aufnahmen. Länder wie Polen, die für ihre Abneigung gegenüber Fremden
bekannt sind, waren plötzlich gastfreundlich. Man fragt sich zurecht, wie
das möglich war.
## Mit sowjetischem Totalitarismus vertraut
Die Erklärung ist so dramatisch wie offensichtlich. Die Menschen in den
Nachbarländern Russlands denken schlicht: „Wir werden die nächsten sein.“
Oder, wie es die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas ausdrückte:
„Wenn das Haus unseres Nachbarn brennt, kann auch unser Haus bald Feuer
fangen.“ Für die Ukrainer kommt erschwerend hinzu, dass es sich hier um
eine Gesellschaft handelt, die wie nur wenige andere vom sowjetischen
Totalitarismus betroffen war.
Beginnend mit dem Holodomor, der großen Hungersnot in den 1930er-Jahren,
wurden die Ukrainer von den Russen zu Millionen abgeschlachtet und das
nicht nur einmal in diesem schrecklichen Jahrhundert. So verwundert es
kaum, dass die Ukraine nicht aufgeben will. [3][Massaker, Säuberungen,
Vergewaltigungen] – die Ukrainer sind überzeugt, dass all das nach einer
Kapitulation weitergehen würde. Die Verweigerung einer Kapitulation stützt
sich auf die realistische Einschätzung der Nachbarn Russlands, die die
Lektion ihrer Geschichte gelernt haben.
Es ist schwierig, Deutschland der Gruppe der östlichen Nachbarn Russlands
zuzuordnen. Die Deutschen haben zwar im 20. Jahrhundert die sowjetische
Besatzung erlebt. Soziologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass die
Deutschen weit mehr als eine weitere russische Invasion, den Krieg im
Allgemeinen und seine Eskalation auf dem gesamten europäischen Kontinent
fürchten. Und dass Wladimir Putin sich schließlich zum Einsatz von
Atomwaffen entschließen wird.
Für diese Haltung gibt es mehrere Erklärungen. Erstens hat Deutschland zwar
die sowjetische Besatzung erlebt, aber erst im 20. Jahrhundert; wohingegen
die Geschichte des russischen Imperialismus in Polen, Litauen, oder
Lettland 200 und sogar 300 Jahre alt ist. Zweitens war die sowjetische
Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg das Ergebnis der aggressiven Politik
Hitlerdeutschlands.
## Deutsche akzeptierten die Besatzung
Viele Deutsche sind deshalb der Meinung, dass sie zwar grausam, aber
durchaus gerechtfertigt war. Drittens haben viele Deutsche aufgrund ihrer
Rolle im Zweiten Weltkrieg eine berechtigte Angst vor dem Krieg als solchem
– während es zentral zur Identität etwa der Polen gehört, dass man in einem
unvermeidlichen Krieg auf der richtigen Seite stehen kann.
In Mittel- und Osteuropa bedeutete die Konfrontation mit dem russischen
Imperialismus einen zyklischen Verlust an Souveränität. Es wurden
Marionettenstaaten und Regierungen geschaffen, die komplett von Moskau
abhängig waren. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts und sogar der letzten
200 Jahre, in denen sie mit dem russischen Imperialismus konfrontiert
waren, zeigt, wie leicht ihre Unabhängigkeit, die sie nach 1989 so mühsam
wiedererlangt hatten, wieder verloren gehen kann.
Russlands Nachbarn sind zudem der Überzeugung, Russland besser zu kennen
und besser zu wissen, wie man sich jetzt verhalten sollte. Sie meinen, von
Anfang an besser erkannt zu haben, dass es sich bei Pipelines wie [4][Nord
Stream II] um politische Projekte handelte. Viele Jahre lang wurden solche
Ansichten als Russophobie abgetan, als irrelevant für die Früchte der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Länder wie Frankreich und Deutschland kennen Russland vielleicht genauso
gut – allerdings aus ihrer eigenen geografischen und historischen
Perspektive. Dabei handelt es sich jedoch um Erfahrungen aus
Friedenszeiten, während es derzeit die tragischen Erfahrungen Osteuropas
sind, die dem Rest des Kontinents wichtige Erkenntnisse liefern könnten.
Aus polnischer Sicht blicken wir hier mit besonderer Sorge auf Deutschland:
Dieses Land, das in unserer öffentlichen Debatte üblicherweise auf einen
breiten öffentlichen Konsens verweist, ist heute in der Frage der Ukraine
gespalten, wie die [5][offenen Briefe] zeigen. Das macht es schwierig, eine
gemeinsame Basis zu finden. Und doch würden wir gerne glauben, dass die
deutsch-polnische Nachbarschaft gerade jetzt neu vertieft werden könnte.
Die alten Römer pflegten zu sagen: „Si vis pacem, para bellum“, was
bedeutet: „Willst du Frieden, bereite dich auf den Krieg vor.“ Im Jahr 2022
sollte man hinzufügen: Wollen Sie Einigkeit, legen Sie Unterschiede offen.
28 Aug 2022
## LINKS
[1] /Ukraine-als-Beitrittskandidat-empfohlen/!5859226
[2] /Tschetschenien/!t5011065
[3] /Massaker-in-Butscha/!5843277
[4] /Nord-Stream-2/!t5650854
[5] /Offene-Briefe-zum-Krieg-in-der-Ukraine/!5851981
## AUTOREN
Karolina Wigura
Jaroslaw Kuisz
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