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# taz.de -- Ariel Pinks politischer Fehltritt: Vom Schock, Vinyl einzustampfen
> Der US-Musiker Ariel Pink nahm am Sturm auf das Kapitol teil. Was das für
> die Musik-Community bedeutete, versucht der Musiker Jason Grier
> auszuloten.
Bild: Ariel Pink bei einem Konzert 2018
Bei einer mehr als 10.000 Teilnehmer zählenden Demonstration in der
US-Hauptstadt Washington am 14. November 2020, wenige Tage nach der
Präsidentschaftswahl, war ein riesiges Banner über die „Black Lives
Matter“-Plaza gespannt: Seine Parole „Trump Law and Order“ verdeckte den
Slogan „Black Lives Matter“.
Bekanntlich hatte der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden,
zuvor die Wahlen gegen Trump gewonnen. Aber Trump und seine Gefolgsleute
wollten ihre Niederlage partout nicht anerkennen. Die säbelrasselnde
Symbolpolitik, die das Trump-Banner zum Ausdruck brachte, war beispielhaft
für das Selbstverständnis vieler Konservativer in den Wochen nach der Wahl.
So brachten sie ihr Missfallen an der Demokratie zum Ausdruck.
Wenn ich hier „zum Ausdruck bringen“ schreibe, dann, um den Euphemismus
solcher Worthülsen zu parodieren. Denn, man kann nur mit dem Begriff
„eskalierende politische Gewalt“ umschreiben, was sich damals im Land
zusammenbraute. Das republikanische Dauertrommeln dröhnte täglich härter
und schneller, es war Vorspiel für einen Tag X, begleitet von
unversöhnlichen Aufrufen zur direkten Aktion gegen das Ergebnis einer
demokratischen Wahl.
Und dann entlud sich die Gewalt. [1][Am 6. Januar 2021 wurden die Türen des
Kapitols nach einem Aufruf von Trump bei einer Kundgebung in der Hauptstadt
von rechten Demonstranten mit Gewalt gestürmt]. In der Folge jenes
unseligen Tages starben fünf Menschen. Es war ein unvermeidliches
Crescendo, in dem die 53 Tage nach dem Wahldienstag kulminierten.
## Sozialpolitisches Harakiri der USA
Der Unterschied zwischen einem Euphemismus und seinem scharfkantigen
Cousin, der Wahrheit – oder was manchen mehr behagt, der Unterschied
zwischen der Wahrheit und ihrem verleumderischen Cousin, der Anschuldigung,
drückt der US-Gegenwart einen negativen Stempel auf. Es ist eine Gegenwart,
die nicht erst an jenem 6. Januar 2021 implodiert ist. Wenn die USA ihr
sozialpolitisches Harakiri der letzten Jahre beibehalten, wird dieser 6.
Januar eines Tages zum Nationalfeiertag erklärt werden müssen.
Stellen Sie sich für einen Moment vor, wie so ein Feiertag begangen werden
könnte? Welche Geschichten sollen geschildert werden? Und was würden sie
über diejenigen besagen, die die Ereignisse herbeigeredet haben? Wer
würde an den Feierlichkeiten teilnehmen wollen?
Ein ehemaliger Künstler [2][meines unabhängigen Labels HEM] wähnt sich
bestimmt unter den Ehrengästen. Der [3][kalifornische Musiker Ariel Pink]
war beteiligt an den Ereignissen im Januar 2021. Es ist bekannt, dass er am
5. Januar an den rechten Protesten bei der Freedom Plaza teilnahm, gleich
neben dem Weißen Haus.
Als herauskam, dass er aus diesem Grund nach Washington gereist ist, habe
ich seine Arbeiten aus dem HEM-Labelkatalog unverzüglich entfernt. Diese
Entscheidung war für mich durchaus bitter, und auch viel komplizierter als
gedacht, weil Ariel Pink auch an Projekten mit anderen Künstler:Innen
beteiligt war.
Was sich vorher wie ein Netzwerk anfühlte, das durch Kollegialität und im
Mentoringprinzip funktionierte, wurde durch Pinks Rechtswende zum
Gegenstand eines düsteren Selbstreinigungsprozesses, dem es sich als
beschädigte Community unterziehen musste. Diese Neuaufstellung eines
kleinen US-Indielabels entspricht – das ist meine Hoffnung – auf einer
Mikroebene dem Heilungsprozess, dem sich die US-Gesellschaft in einem viel
größeren Rahmen dringend stellen muss.
Im Verlauf dieser Aufräumarbeiten tauchten viele Fragen auf. Am
relevantesten bleibt diejenige, wie wir zukünftig überhaupt Teilnahme am
Protest definieren. Ist Protest grundsätzlich friedfertig und sind alle ihn
schmähenden Aspekte nur Zusätze oder Erweiterungen? Oder kann Vehemenz
auch Protest untermauern, auf eine Art, die jede Form von Partizipation per
definitionem gewalttätig macht? Ist es möglich, dass diejenigen von uns,
die am sichtbarsten sind, nur passiv bleiben? Oder nehmen sie ohnehin
stärkeren Einfluss? Mit anderen Worten: Was bedeutet Protest im
Zusammenhang mit Gewalt, und ändert sich etwas an ihm, wenn daran bekannte
Persönlichkeiten beteiligt sind?
## Wer ist das „wir“ auf der Straße
Viele TeilnehmerInnen des 6. Januar behaupten, so wie Ariel Pink auch immer
wieder beteuert hat, ihr Mitwirken sei per se noch nicht gewalttätig
gewesen. Sie schränken das Ausmaß ihrer eigenen Beteiligung und die
Konsequenzen, die sich daraus ergeben, ein und verhindern damit, dass die
Reaktion der Community auf das, was in jenen dunklen Stunden in Washington
tatsächlich an Gewalt vorgefallen ist, gerecht und fair ausfällt. Und doch
hat sich die Musikszene, in der auch ich mich bewege, einstimmig (und, wie
ich finde korrekt) in der Beurteilung dafür entschieden, bei den Vorfällen
als Ganzes zu bleiben.
In ihrem Essay, “Notes Toward a Performative Theory of Assembly“ fragt die
US-Philosophin Judith Butler: “Woher wissen wir eigentlich, wer genau
dieses ‚wir‘ ist, das sich auf den Straßen versammelt? Kann eine
Versammlung dem Willen der Menschen überhaupt Ausdruck verleihen?“ Ich
formuliere Butlers Frage um: Woher wissen wir, dass ein Künstler für andere
Menschen spricht?
Die Antwort ist kompliziert, auch weil es schwer fällt, diese Frage auf
universelle Weise zu beantworten, denn ein Künstler trägt scheinbar keine
Verantwortung dabei, „das Volk“ zu vertreten. Vielleicht fällt eine Antwort
leichter, wenn der Künstler berühmt ist und auf die eine oder andere Weise
andere Menschen in seinem Tun aktiv beeinflusst.
Für mich persönlich war die Antwort daher absolut einschätzbar. Ich kann es
nicht mehr vor meinen Verwandten verantworten, warum ich dem Künstler Ariel
Pink weiterhin Unterschlupf gewähre, dessen Musik von einem rassistischen
TV-Sender zum Spendensammeln verwendet wird. Ich kann vor einer jungen
Künstlerin, die mir ein Demotape schickt, nicht bestehen, wenn ich
weiterhin mit ihm Geschäfte mache, der frauenfeindliche Äußerungen von
Dritten gutheißt. Also, auf diesem Level war für mich die Beendigung der
Zusammenarbeit mit Ariel Pink, wie für andere auch, sehr einfach.
Aber generell stellt sich ja die Frage, ob der Status der Partizipation
noch weitere Auswirkungen hat. Die Teilnahme eines Künstlers an einer
Versammlung ist schließlich kein Kunstwerk und die Arbeit eines Künstlers
ist nicht notwendigerweise Ausdruck seiner politischen Überzeugungen.
Politische Versammlungen sind keine Kunstwerke und umgekehrt. Aber beide
Manifestationen tragen ähnliche Lasten mit sich herum. Zum Beispiel die
Tatsache, dass beide ihre Äußerungen mit einem Grad von Dringlichkeit, und
in einer Größenordnung von Intimität, Ausdruck verleihen müssen.
## Freie Meinungsäußerung und Gewalt
Was für eine freie Meinungsäußerung ist es, wenn ihr Banner ein anderes
verdeckt? Was für eine freie Meinungsäußerung kulminiert in einem
gewalttätigen Aufstand? Und was folgt aus einer freien Meinungsäußerung,
wenn ein einflussreicher Künstler an einer gewalttätigen öffentlichen
Veranstaltung teilnimmt, anders als ein anonymer Bürger, um den es keinen
Persönlichkeitskult gibt? Wer lässt den Hammer kreisen?
Noch mal kurz zurück zum zukünftigen dystopischen Nationalfeiertag 6.
Januar. Ariel Pink ist sicher einer derjenigen, der seine Meinungstrompete
schon gedämpft hat. Denn er hat mit seiner Teilnahme am 6. Januar seiner
eigenen Karriere weit mehr geschadet als den USA als Ganzes. Er hat seine
eigene Künstlercommunity damit zwar in einen Schockzustand versetzt, aus
dem sie dennoch mit mehr Zusammenhalt wieder aufgewacht ist.
Und doch wirkt der Schockzustand nach. Eine Woche nach meiner Entscheidung,
Ariel Pink rauszuwerfen, werden mir in einem nächtlichen Telefonat mit dem
Plattenvertrieb in Nordamerika die Einzelheiten ersichtlich, die das
Einstampfen von tonnenweise Vinyl mit sich bringt. Bereits gepresste
Exemplare verschwinden aus den Ladenregalen. Sie werden an ein Lagerhaus
geschickt und kommen dann zu einem Recyclingbetrieb. Alle Lageristen,
Kuriere, Vorarbeiter:Innen werden davon in Kenntnis gesetzt.
Mich verblüfft, wie hartnäckig diese Fakten sind, verglichen mit all den
vagen Nachrichten, die um sie herumschwirren. Wie man es auch dreht und
wendet, es gibt keine alternativen Fakten zum Einschmelzen von Vinyl.
Aus dem Englischen von Julian Weber
28 Aug 2022
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-nach-dem-Sturm-aufs-US-Kapitol/!5823833
[2] /Neues-Album-von-Jason-Grier/!5052448
[3] /Begegnung-mit-US-Weirdo-Ariel-Pink/!5447340
## AUTOREN
Jason Grier
## TAGS
Musik
Label
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Politisches Buch
Faschismus
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