| # taz.de -- Sanktionen gegen Russland: Armes Land mit Atomwaffen | |
| > Der Westen wird den Wirtschaftskrieg gegen den Kreml gewinnen, aber nicht | |
| > sofort. Er darf sich nur nicht von russischer Propaganda blenden lassen. | |
| Russland dreht den Gashahn ab, was Wirtschaftsminister Habeck vorwurfsvoll | |
| kommentierte: „Russland nutzt seine Macht, um uns zu erpressen.“ Das | |
| stimmt. Allerdings gilt diese Analyse auch umgekehrt. Die EU versucht | |
| ebenfalls, Russland ökonomisch maximal zu schaden, und hat daher | |
| drakonische Sanktionen verhängt. Der militärische Konflikt in der Ukraine | |
| ist auch ein Wirtschaftskrieg. Die Frage ist: Kann er überhaupt gewonnen | |
| werden? Und wenn ja, wer wird siegen? | |
| Auf den ersten Blick wirkt es, [1][als würde Russland die westlichen | |
| Sanktionen bestens überstehen]. Der Rubel hat zu einem sensationellen | |
| Höhenflug angesetzt; seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine hat er | |
| gegenüber dem Dollar um 20 Prozent zugelegt. Stell dir vor, es ist Krieg – | |
| und du wirst reicher. | |
| Der Rubel wertet auf, weil Russland gigantische Exportüberschüsse einfährt | |
| – was ebenfalls dem Krieg zu verdanken ist. Energie wird weltweit knapp, | |
| sodass die Preise für Öl und Gas steigen. Russland exportiert zwar weniger | |
| Energie, weil es selbst den Gashahn abdreht – aber in der Summe hat es | |
| bisher für sein Öl und Gas fast doppelt so viel kassiert wie vor dem Krieg. | |
| Die russischen Devisenbestände könnten bis Jahresende um etwa 285 | |
| Milliarden Dollar steigen, schätzt der Finanzdienstleister Bloomberg. | |
| Russland schwimmt also in ausländischem Geld. Aber wieder einmal zeigt | |
| sich, dass Devisen allein nicht viel nutzen. Denn die westlichen Sanktionen | |
| verhindern, dass die Russen munter auf den Weltmärkten einkaufen können. | |
| Gelegentlich dürfte es ihnen zwar gelingen, die begehrte Hochtechnologie | |
| über Drittstaaten und Mittelsmänner trotzdem zu erwerben. Doch diese | |
| Camouflage-Aktionen sind selten und teuer. | |
| Klar ist jedenfalls, dass die Russen eine Art „Zwangssparen“ praktizieren. | |
| Sie bunkern enorme Devisenmengen, weil sie im westlichen Ausland nicht viel | |
| kaufen können. So bleiben auch genug Dollar übrig, um auf den Finanzmärkten | |
| den Rubelkurs zu pflegen und den Eindruck zu erwecken, als würde die | |
| russische Wirtschaft geradezu bersten vor Kraft. Das wirkt im Westen. | |
| [2][Die Süddeutsche Zeitung ] titelte über Putins Russland: „Überraschend | |
| starke Kriegswirtschaft“. | |
| Russland baut jedoch [3][nur eine hübsche Fassade] auf, denn die | |
| ökonomische Lage ist desaströs. Der Westen kann zufrieden sein: Seine | |
| Sanktionen sind eine extrem scharfe Waffe. | |
| Selbst die russische Zentralbank gibt zu, dass es abwärtsgeht. In ihrer | |
| Juli-Prognose rechnet sie jetzt offiziell damit, dass die russische | |
| Wirtschaft in diesem Jahr um 4 bis 6 Prozent schrumpfen wird. Minus 6 | |
| Prozent mögen relativ harmlos klingen, allerdings ist der russischen | |
| Zentralbank nicht zu trauen. Seit Kriegsbeginn besteht ihre Rolle darin, | |
| verfehlten Optimismus zu verbreiten. In Russland ist aus dem | |
| Wirtschaftskrieg längst auch ein Informationskrieg geworden. | |
| Jedenfalls lesen sich die Presseerklärungen der Zentralbank, als wären sie | |
| in einem Paralleluniversum entstanden. Putins Krieg in der Ukraine wird mit | |
| keinem einzigen Wort erwähnt, noch nicht einmal der erlaubte Begriff | |
| „Spezialoperation“ fällt. Stattdessen inszeniert die Zentralbank den | |
| Anschein makroökonomischer Normalität, indem sie von | |
| „Inflationserwartungen“ und „gedämpfter Konsumnachfrage“ schwadroniert… | |
| verbrecherische Angriff auf das Nachbarland wird in die harmlose Floskel | |
| gekleidet, dass „das externe Umfeld der russischen Wirtschaft weiterhin | |
| herausfordernd bleibt“. | |
| Nun ist es keine Überraschung, dass eine Diktatur ihre eigenen Statistiken | |
| frisiert. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Westen die russischen | |
| Einschätzungen einfach übernimmt. So wartete der Internationale | |
| Währungsfonds (IWF) am Dienstag ebenfalls mit der Prognose auf, dass die | |
| russische Wirtschaft in diesem Jahr nur um ganze 6 Prozent schrumpfen | |
| würde. | |
| Der IWF hat allerdings mit dem Problem zu kämpfen, dass die russische | |
| Statistikbehörde seit Mai keinerlei belastbare Daten mehr veröffentlicht. | |
| So wird über Exporte und Importe eisern geschwiegen, damit der Westen nicht | |
| erkennen kann, ob die Sanktionen unterlaufen werden. Auch Zahlen zur | |
| einheimischen Produktion fehlen jetzt völlig, denn die letzten Erhebungen | |
| waren niederschmetternd. Im April 2022 wurden im Vergleich zum Vorjahr 85,4 | |
| Prozent weniger Autos hergestellt, bei Waschmaschinen waren es minus 59 | |
| Prozent, bei Fahrstühlen minus 48 Prozent und bei Kühlschränken minus 46 | |
| Prozent. | |
| Zur Not lässt es sich zwar auch ohne eine neue Waschmaschine leben, aber | |
| diese Zahlen illustrieren das fundamentale Problem: Durch die Sanktionen | |
| sind 62 Prozent aller russischen Importe nicht mehr möglich, wie die | |
| US-amerikanische Denkfabrik Carnegie errechnet hat. Diese westlichen | |
| Vorprodukte werden aber benötigt, damit die russische Industrie überhaupt | |
| produzieren kann. Vor allem die Hochtechnologie fehlt nun. | |
| Russland bemüht sich zwar, die Wucht der Sanktionen zu verheimlichen – aber | |
| Putin kann nicht verhindern, dass der Kollaps der Handelsbeziehungen auch | |
| im Westen Datenspuren hinterlässt. So meldete etwa das Statistische | |
| Bundesamt kürzlich, dass im Mai die deutschen Exporte nach Russland im | |
| Vergleich zum Vorjahr um 50,9 Prozent gesunken sind. Bei Autoteilen betrug | |
| das Minus sogar 96,2 Prozent. | |
| Markant: Wie diese Exportdaten auch ausweisen, stiegen die deutschen | |
| Ausfuhren an Arzneien stark an – um satte 42,2 Prozent. Medizinische | |
| Produkte sind, schon aus humanitären Gründen, von Sanktionen ausgenommen. | |
| Aber es waren nicht etwa Impfstoffe, die zu Coronazeiten nach Russland | |
| gingen. Vakzine wurden überhaupt nicht gehandelt. Also lässt sich vermuten, | |
| dass die zusätzlichen Arzneimittel vor allem für die russischen Truppen in | |
| der Ukraine benötigt werden. | |
| Putin versucht zwar geheim zu halten, wie viele seiner Soldaten inzwischen | |
| verwundet sind, sodass nur Schätzungen kursieren. Aus dem US-Kongress war | |
| kürzlich zu hören, dass schon 75.000 der Kreml-Streitkräfte entweder tot | |
| oder verletzt sein sollen. Das mag übertrieben sein. Aber auch eine | |
| scheinbar harmlose Datenquelle wie die deutsche Exportstatistik legt nahe, | |
| dass die russischen Verluste erheblich sind. | |
| Doch zurück zum Wirtschaftskrieg: [4][Der Westen traut seinen eigenen | |
| Sanktionen nicht], weil sich hartnäckig die Sorge hält, dass Russland die | |
| Handelshemmnisse einfach umgehen könnte, indem es etwa in China einkauft. | |
| Doch dieser Ausweg ist ebenfalls versperrt. In diesem Jahr sind die | |
| chinesischen Exporte nach Russland um etwa 38 Prozent gefallen, wie den | |
| Zolldaten aus Peking zu entnehmen ist. Ein Grund ist ganz banal: Etwa die | |
| Hälfte aller Ausfuhren nach Russland wurde bisher von westlichen Konzernen | |
| produziert, die in China ansässig sind – und die sich nun an die Vorgaben | |
| ihrer Mutterkonzerne halten. Aber selbst rein chinesische Firmen wie etwa | |
| Huawei liefern jetzt weniger nach Russland, weil sie ihre weltweiten | |
| Absatzmärkte nicht gefährden wollen. Die South China Morning Post schrieb | |
| ganz offen, dass die Konzerne „sich davor hüten, in Kollision mit den | |
| westlichen Sanktionen zu geraten“. | |
| Zudem könnte China das westliche Know-how gar nicht komplett ersetzen, | |
| selbst wenn es wollte. Unter anderem fehlt China jedes Wissen, wie sich Gas | |
| oder Öl fördern lassen, denn das Land besitzt keine eigenen Quellen und hat | |
| daher auch keine Bohrtechnik entwickelt. Umgekehrt muss Russland aber | |
| ständig neue Fördergebiete erschließen, wenn es seine Energieexporte | |
| aufrechterhalten will, weil die alten Quellen langsam versiegen. Für den | |
| Kreml ist es daher extrem bedrohlich, dass sich die westlichen Ölmultis wie | |
| Shell, BP oder Total nun aus Russland zurückgezogen haben. Ihr technisches | |
| Wissen lässt sich nicht anderswo kompensieren. | |
| Für den Kreml schwierig ist auch die Luftfahrt, weil Langstreckenflugzeuge | |
| allein von Boeing und Airbus gebaut werden. Bekannlich ist Russland aber | |
| das weitaus größte Land der Erde und auf Flugverbindungen dringend | |
| angewiesen. Anfangs war der Westen optimistisch, dass der Flugbetrieb in | |
| Russland sofort zusammenbrechen würde, wenn keine Ersatzteile mehr ins Land | |
| gelangen und westliche Ingenieure die geleasten Maschinen nicht mehr warten | |
| dürfen. Doch diese Hoffnung hat sich noch nicht erfüllt. Der Flugbetrieb in | |
| Russland geht bisher weiter. | |
| Denn die Sanktionen wirken durchaus paradox: Da russische Flugzeuge die | |
| meisten Ziele in der Welt nicht mehr ansteuern dürfen, stehen nun mehr als | |
| genug Maschinen zur Verfügung, um die inländischen Flüge abzuwickeln. Zudem | |
| gibt es noch den grauen Markt; für viel Geld und über Umwege lassen sich | |
| auch Ersatzteile via die Türkei oder Usbekistan beschaffen. Doch ist dies | |
| nur eine kurzfristige Lösung. Langfristig werden immer mehr Maschinen am | |
| Boden bleiben, weil die westliche Technik und Wartung fehlt. | |
| Damit ist das entscheidende Wort gefallen: „langfristig“. Der Westen wird | |
| den Wirtschaftskrieg gegen den Kreml gewinnen, aber eben nicht sofort. | |
| Sanktionen können die Waffen nicht ersetzen, die die Ukraine jetzt so | |
| dringend braucht. Denn momentan ist Russland noch autark, wenn es darum | |
| geht, Krieg zu führen. Das Land besitzt Nahrungsmittel, Öl und Waffen. | |
| Trotzdem sind die Sanktionen nicht überflüssig. Sie verhindern schon jetzt, | |
| dass Russland künftig die Mittel hat, um wieder aufzurüsten. Vor allem aber | |
| treiben sie den Preis hoch, den Russland für den Krieg in der Ukraine zu | |
| zahlen hat. Putin wird seinen Angriff nur beenden, wenn es sich für ihn | |
| lohnt. Wenn die russische Wirtschaft kollabiert, ist die Frage geklärt, was | |
| ein Anreiz sein könnte, zum Frieden zurückzukehren. Sollte Putin nämlich | |
| nicht einlenken, wird Russland zu einem zweiten Nordkorea. Ein ganz armes | |
| Land, das nur noch Atomwaffen besitzt. | |
| 30 Jul 2022 | |
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| [1] /Wirtschaftliche-Lage-in-Russland/!5859209 | |
| [2] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sanktionen-russland-wirtschaft-1.562… | |
| [3] /Preissteigerungen-im-Ukraine-Krieg/!5856280 | |
| [4] /Energie-Embargo-gegen-Russland/!5862007 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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