| # taz.de -- Perspektiven im Ukraine-Krieg: Unfassbare Nonchalance | |
| > Es muss mit Russland geredet werden. Wer die vollständige Rückeroberung | |
| > der besetzten Gebiete propagiert, bewegt sich auf eine nukleare | |
| > Eskalation zu. | |
| Bild: Anonyme Gräber von Soldaten und Zivilisten im Wald bei Izium in der Ukra… | |
| Die Forderung [1][der neun osteuropäischen Nato-Staaten, den Eilantrag des | |
| ukrainischen Präsidenten zur Aufnahme in die Nato] zu unterstützen, ist | |
| mehr als eine Herausforderung für die Allianz. Nach den von Osteuropäern | |
| ausgehenden früheren Forderungen nach einer Flugverbotszone der Nato über | |
| der Ukraine und der zeitweisen litauischen Teilblockade von Transitrouten | |
| nach Kaliningrad ist diese Initiative der bisher weitreichendste Versuch, | |
| die Nato unmittelbar in den Krieg hineinzuziehen – und das mitten in ein | |
| reales nukleares Eskalationsrisiko hinein. | |
| Würde die Bundesregierung einer Aufnahme der Ukraine in die Nato zustimmen, | |
| könnte sie sich einem Einsatz von deutschen Truppen in der Ostukraine nicht | |
| entziehen. Die Protagonisten der unsäglichen Forderung nach einem schnellen | |
| Beitritt blenden jede seriöse Folgenabschätzung aus. | |
| Den Machteliten im System Putin ist klar, dass die erfolgreich verlaufende | |
| Selbstverteidigung der Ukraine zu einem großen Teil von der Unterstützung | |
| durch den Westen abhängt. Die operativen Fehlschläge und die hohen | |
| russischen Verluste gehen für Putin und dessen Generalstab primär auf das | |
| Konto Washingtons und der Nato-Europäer. Die wiederholten Atomdrohungen | |
| Putins müssen rational analysiert werden. Sollen sie die Europäer im Westen | |
| einschüchtern, Angst schüren, spalten? Die Antwort ist ein klares Ja. Ist | |
| Putin grundsätzlich bereit, taktische Nuklearwaffen einzusetzen? Die | |
| Antwort darauf ist ebenfalls Ja. Er besitzt die Grundbrutalität dazu, und | |
| er weiß um die geografische Größe seines Landes. | |
| Seine [2][konventionellen Streitkräfte sind inzwischen erheblich | |
| geschwächt]. Und die Zeit läuft ihm davon. Es sind realistische Szenarien | |
| vorstellbar, in denen Putin keine andere Wahl mehr sieht und zur nuklearen | |
| Eskalation greift. Er würde die Folgen, so unkalkulierbar sie für ihn sind, | |
| in seiner ganzen Verblendung vermutlich nicht scheuen. Weder die Aussicht, | |
| als globaler Paria stigmatisiert zu werden, noch die Erwartung massiver | |
| amerikanischer konventioneller Luftschläge auf russische Fronttruppen in | |
| der Ukraine dürfte ihn beeindrucken. Letzteres würde im Übrigen die Nato | |
| zwangsläufig in den Krieg hineinziehen. | |
| Dürfen Washington und die Bundesregierung, es so weit kommen lassen? | |
| [3][Wie weit dürfen wir uns einer nuklearen Katastrophe nähern?] Wollen wir | |
| uns wirklich herantasten an die letzten russischen roten Linien? In diesen | |
| Fragen dominiert in weiten Teilen der deutschen Politik und Medien eine | |
| unfassbare Nonchalance. Einige glauben offenbar, dass russische Atomschläge | |
| mit relativ geringer Sprengkraft in Kauf genommen werden könnten und | |
| blenden völlig aus, dass wir alle mit dem Bruch des nuklearen Tabus in eine | |
| völlig andere strategische Welt eintreten würden. Die meisten | |
| Nuklearexperten glauben nicht an eine Begrenzung eines Krieges mit | |
| Atomwaffen, wenn der zerstörerische Geist einmal aus der Flasche ist. | |
| Anstatt einer dramatischen Ausweitung und Eskalation des Kriegs zuzusehen, | |
| [4][bedarf es dringend der Analyse von Ausstiegsoptionen, die zunächst | |
| einmal das Gemetzel an den Fronten stoppen]. Die dafür entscheidende Ebene | |
| ist die zwischen Moskau und Washington: Joe Biden definiert durch vielfache | |
| militärische Unterstützung den Handlungsspielraum von Ukraines Präsident | |
| Selenski. Das oft gehörte Mantra, dass nur Selenski über Verhandlungen | |
| bestimmen kann, ist nur die halbe Wahrheit: Der Schlüssel für einen | |
| Ausstieg liegt in Moskau und Washington, die offenbar über einige Kanäle | |
| weiter kommunizieren. | |
| Mit Blick auf die wachsenden Eskalationsrisiken für Europa insgesamt und | |
| die Ukraine ohnehin kommt es jetzt auf einen rationalen Abwägungsprozess an | |
| – zwischen den Zerstörungsrisiken einer nuklearen Eskalation und den | |
| Risiken, Bedingungen und Folgen einer Einstellung der Kampfhandlungen in | |
| Verbindung mit humanitären Lösungen. | |
| Dazu muss die Ausstiegsoption erst einmal in der verengten Debatte | |
| zugelassen und ausgeleuchtet werden: Eventuell ergibt sich in der nahen | |
| Zukunft im Zusammenhang mit der Schwäche der russischen Streitkräfte ein | |
| Fenster der Gelegenheit, das sich im Eskalationsgeschehen auch wieder | |
| schließen kann. Würde sich der Westen damit angstgetrieben der Erpressung | |
| Putins beugen? Nein, es wäre ein Akt der Vernunft, um weit Schlimmeres zu | |
| verhindern und einen erheblich geschwächten Putin, der seine Kriegsziele | |
| klein zu machen gezwungen war, hinterlassen. | |
| ## Überbordende menschliche Verluste | |
| Wer weiterhin [5][die vollständige Rückeroberung der besetzten Gebiete] | |
| propagiert, sollte nicht verdrängen, dass er sich damit auf die nukleare | |
| Eskalation durch Moskau hinbewegt. Es ist klar, dass sowohl die ukrainische | |
| Führung als auch die osteuropäischen Staaten Ausstiegsoptionen nur schwer | |
| schlucken können. Denn Kiew würde auf unbestimmte Zeit die staatliche | |
| Kontrolle über die noch von Russland besetzten Teile ihres Territoriums | |
| verlieren – bis in einer anderen politischen Konstellation in Moskau eine | |
| Wiedervereinigung möglich ist. Aber auch Kiew muss im Blick auf seine | |
| nationalen Überlebensinteressen politisch so navigieren, dass die | |
| menschlichen Verluste und Zerstörungen nicht überborden. | |
| Zudem besteht für die Nato und die Europäische Union aus strategischen | |
| Gründen die Notwendigkeit, die Bedingungen der europäischen Sicherheit in | |
| den kommenden fünf bis zehn Jahren in den Blick zu nehmen. Dies ist in der | |
| aktuellen Debatte noch völlig ausgeblendet: Welches Verhältnis wollen Nato | |
| und EU langfristig mit Russland anstreben? Eine koordinierte Außenpolitik | |
| im Rahmen von EU und Nato muss dringend Perspektiven entwickeln, wie wir | |
| die gefährliche strategische Instabilität in den kommenden Jahren managen | |
| wollen. Auch dafür werden heute die Weichen gestellt. | |
| Der neue „eiserne Vorhang“ ist bereits gefallen. Deshalb ist eine halbwegs | |
| belastbare Koexistenz mit Russland in der Zukunft notwendig, um schweren | |
| Schaden von Europa abzuwenden. | |
| Helmut W. Ganser ist ehemaliger Brigadegeneral der Bundeswehr und war | |
| stellvertretender Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im | |
| Verteidigungsministerium sowie militärpolitischer Berater des deutschen | |
| Ständigen Vertreters bei der Nato in Brüssel. | |
| 7 Oct 2022 | |
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