| # taz.de -- Debütalbum von Naima Bock: Epiphanie mit Wohnmobil | |
| > Die britische Musikerin Naima Bock findet auf ihrem Debütalbum „Giant | |
| > Palm“ beim Driften zu sich selbst. Das geht seltsam zu Herzen. | |
| Bild: Naima Bock lässt ihre Traumlieder schlingern und treiben | |
| Wenn der Gedanke an die eigene Endlichkeit zu schwer auf den Schultern | |
| lastet, gibt es nur eine Möglichkeit: Erstmal ein Wohnmobil suchen. | |
| Abhauen, am besten alleine. So hat zumindest Naima Bock sich das | |
| vorgestellt. „In wind and rain I’ll find my birth/And when I can I’ll go | |
| alone“, singt die Londoner Musikerin in „Campervan“. Was sich nach einer | |
| recht generischen Selbstfindungsfantasie anhört, klingt auf Bocks | |
| Solo-Debütalbum „Giant Palm“, als öffne sie das Tor zu einem Raum | |
| außerhalb der Zeit. Eine Gitarrenmelodie wie gleißendes Licht verwandelt | |
| sich in einen gedämpften Walzer – draußen im Wald, wo sich Fuchs und Hase, | |
| Vashti Bunyan und John Cale „Gute Nacht“ sagen. „Looking for a camper van… | |
| singt Bock im Refrain sehnsüchtig, „looking for a different band“. | |
| Diese Band, die Naima Bock verlassen hat, heißt Goat Girl, und sie gilt als | |
| eine der derzeit wichtigsten Gitarrenbands Englands. Bereits als Teenager | |
| sollen sich die Mitglieder von Goat Girl kennengelernt haben. Wie auch | |
| andere aktuell prägende britische Bands, zum Beispiel Black Midi und Shame, | |
| formten sie ihren Sound anschließend bei Auftritten im Club „The Windmill“ | |
| im Südlondoner Stadtteil Brixton: [1][einem dieser Orte, an dem noch junge | |
| Rock’n’Roll-Geschichte geschrieben wird.] | |
| Es ist schwer zu sagen, ob Goat Girl mit ihrem selbstbetitelten Debüt 2018 | |
| zur rechten Zeit am rechten Ort waren. Oder ob sie es gewesen sind, die | |
| diese „rechte Zeit“ mit eingeläutet haben: die Wiederkehr der Gitarrenmusik | |
| als mächtiges Gefährt, das diffuses Unbehagen an der Welt genauso gut | |
| transportiert, wie die Wut übers Leben im dysfunktionalen | |
| Post-Brexit-England. Wobei Goat Girl nie dezidiert agitatorisch klangen – | |
| und nie dezidiert nach England. Vielmehr hörte sich ihr rätselhafter Sound | |
| zwischen Direktheit und Surrealismus an wie eine versponnene Version der | |
| Cowpunk-Vorreiter The Gun Club aus Los Angeles. Ihr Debüt war ein | |
| schwergängiges Wanken und Trudeln, ein Album der Americana-Biester, der | |
| schrägen Zwischenspiele und verbeulten Honky-Tonks mit | |
| Postpunk-Schlagseite. | |
| ## Sonnenmüde Blechbläser | |
| Die Welt liebte diese sperrige Band, die so offensichtlich nicht nach Liebe | |
| fragte. Als aber das zweite Album von Goat Girl, „On All Fours“, Anfang | |
| 2021 erschien, war Bock als Bassistin schon nicht mehr mit von der Partie. | |
| Warum die Trennung offenbar nötig wurde, hört man in ihrem Debüt: Auf | |
| „Giant Palm“ rumpelt und scheppert nichts. Lieber als kaputten Rock spielt | |
| Bock psychedelischen Folk wie aus dem Laurel Canyon der 1970er. Das Echo | |
| dieser Musik hallte einst bis in die Nullerjahre [2][hinein in die | |
| Einsiedlerhütten von Musikern wie Devendra Banhart], die man bald der „New | |
| Weird America“-Bewegung zuordnen sollte. | |
| Naima Bock erweitert den „Freak Folk“ jener Zeit um Streicher, Flöten und | |
| sanfte, sonnenmüde Blechbläser. Geradewegs aus Brasilien scheinen sie übers | |
| Meer zu wehen. Bocks Mutter stammt von dort, die Musikerin selbst | |
| verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in São Paulo. Zeit genug, den Geist | |
| des Tropicalismo zu inhalieren: die Musik von Os Mutantes oder Gal Costa, | |
| die Psychedelic und Bossa Nova verbindet. Scheinbar ewig lässt Bock ihre | |
| kalifornisch-brasilianischen Traumlieder ausfransen und schlingern. | |
| Manchmal fragt man sich für Sekunden, ob die Musik überhaupt noch läuft | |
| oder längst im Kopf weiterspielt. | |
| Bocks dunkle, sanfte Stimme erinnert an eine andere Hoffnungsträgerin aus | |
| London: Nilüfer Yanya, die vor Kurzem ihr zweites Album veröffentlicht hat. | |
| Im Song „Every Morning“ wiederum klingt Bock fast wie Aldous Harding. Genau | |
| wie die neuseeländische Gestaltwandlerin trifft Bock oft sehr genau den | |
| „sweet spot“ zwischen Rührendem, Skurrilem und sachte Beunruhigendem. | |
| Im Video zum Stück „Toll“ etwa zieht ein leidgeplagter Pilger, gekleidet in | |
| Schwarz, einsam durch die Welt. Auf einer Lichtung findet er einen weißen | |
| Hut und erfährt eine Art Epiphanie: Heureka, das Leben ist ja doch | |
| annehmbar! Als Sektenführer zieht er bald eine Gruppe Hippies in | |
| Wallekleidern, unter ihnen Naima Bock selbst, in seinen Bann. Das Ganze ist | |
| zugleich Gruselmärchen in Wackelkamera-Ästhetik und ironisches Spiel mit | |
| den Folkreferenzen in Bocks Musik. Und geht doch seltsam zu Herzen, ähnlich | |
| wie ihre Suche nach dem Wohnmobil im Video zum Song „Campervan“. Als sie es | |
| schließlich gefunden hat, fährt sie nämlich doch nicht all alone in die | |
| Wildnis. Sondern gemeinsam mit der Band, dem passenden Kollektiv, das sie | |
| gesucht – und nun endlich gefunden hat. | |
| 16 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Lorenz | |
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