| # taz.de -- Tiñas „Positive Mental Health Music“: Sprechen, ohne sich zu s… | |
| > Es ist befreiend, als Mann in Pink aufzutreten. Mit ihrem neuen Album | |
| > versucht die Londoner Band Tiña, in einer entfremdeten Welt Halt zu | |
| > finden. | |
| Bild: Männer in Pink. Die Londoner Band Tiña kommt aus dem Umfeld des Clubs T… | |
| Als Josh Loftin eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich | |
| in seinem Bett zu einem ungeheuren Nichts verwandelt. „Es hat klick | |
| gemacht. Ich bin zusammengebrochen, als hätte jemand das Licht | |
| ausgeschaltet“, erzählt Loftin der taz. Loftin ist Sänger der Londoner Band | |
| Tiña, die vor Kurzem ihr Debütalbum „Positive Mental Health Music“ | |
| veröffentlicht hat. | |
| Der Titel ist nicht bierernst gemeint, doch das Album war für den | |
| 33-Jährigen der Weg, aus einer schweren Krise zu finden. „Empfindungen wie | |
| Scham und Stolz spielen in so einem Zustand keine große Rolle mehr. Ich | |
| hatte das Gefühl, dass es nicht mehr viel zu verlieren gibt. Das führt auch | |
| dazu, dass man den ganzen überflüssigen Scheiß außer Acht lässt. Man ist | |
| nur auf der Suche nach etwas, das irgendwie wahr ist, denn nur das lässt | |
| einen wieder etwas fühlen.“ | |
| Wenn man die Musik von Tiña hört, wird einem schnell klar, wie das | |
| funktioniert hat: Ein lauter, tiefer Bass, der in den Bauch zielt. | |
| Schrammelige E-Gitarren, die Wut und Freude rauslassen, ein Schlagzeug, das | |
| die Äxte vorantreibt, und natürlich der Gesang. Mal im Bariton, mal im | |
| Falsett resümiert Loftin („I have been brought up in completely the wrong | |
| way / I’m supposed to be open but I’m closed up most of the day“). Es ist | |
| weniger Bekenntnis als Anklage, wenn er singt: „Seems like a joke / How | |
| everyone hurts / But no-one says a thing, out in the world.“ Hoffnungen | |
| lässt er ebenfalls gelten. | |
| Dazu kommt ein Synthesizer, der die herzerweichenden Tonartwechsel | |
| unterstützt – das ist Indie-Rock in all seiner Kraft und Schönheit. „Wenn | |
| ich gemeinsam mit der Band aus dem Leiden Musik schaffe, wird daraus etwas | |
| Wunderbares, etwas Eigenwilliges, es ist nicht mehr nur die Wiederholung | |
| des Leidens“, so erfährt es auch Loftin. | |
| Entscheidend für das Entstehen dieser Musik ist die Gemeinschaft, in der | |
| Band, aber auch darüber hinaus. In den Videoclips zu Songs wie „Dip“ oder | |
| „People“ lässt sich gut sehen, wie die Band mit Freund*innen beim | |
| gemeinsamen Abhängen, Skaten und Musikmachen Spaß hat – und die Kraft | |
| findet, der kapitalistisch getriebenen Welt den Mittelfinger zu zeigen. Im | |
| Video zu „Golden Rope“, einem Song, der von Selbstmordgedanken handelt, | |
| tanzt die Band in pinkfarbenen Togas am Strand. So albern das aussieht, so | |
| gut zeigt es auch, worum es in dieser Band geht: Nicht cool sein zu wollen, | |
| sich nicht zu schämen, sich mit- und aneinander zu freuen. | |
| Überhaupt Pink – Loftins Markenzeichen ist ein pinkfarbener Papp-Cowboyhut | |
| mit Löchern, auch auf der Bühne tritt er ganz in Pink auf: „Es hat etwas | |
| Befreiendes, wenn wir als Männer mit Dingen spielen, die als weiblich | |
| gelesen werden. Sei es ein Outfit in Pink, sei es, sich in der | |
| Kommunikation zu öffnen und verletzlich zu machen.“ Über seine Rolle als | |
| Mann zu reflektieren war für Loftin auch Teil seiner Krisenbewältigung. In | |
| einem Interview mit dem britischen Online-Musikmagazin NME hat er seinen | |
| Zustand als „being lonely and horny“ beschrieben – eine Gefühlsmischung, | |
| die wohl viele Männer in dieser Gesellschaft nur zu gut kennen, aber selten | |
| benennen. | |
| „Für mich ist es eine Herausforderung, über solche Dinge öffentlich zu | |
| sprechen, ohne mich zu schämen“, erzählt Loftin, darauf angesprochen. „Und | |
| ich möchte natürlich auch, dass andere Männer so etwas lesen und sich | |
| weniger für ihren Seelenzustand schämen. Wir leben in einer Welt, die voll | |
| ist mit sexuellen Anspielungen. Und irgendwie gehen wir davon aus, dass | |
| alle andere Menschen guten, vertrauten Sex haben.“ | |
| Ihre Heimat haben Tiña in der Szene um den Club The Windmill in Brixton im | |
| Süden Londons, aus der in den letzten Jahren einige bemerkenswerte Projekte | |
| wie Goat Girl, King Krule, Shame und Fat White Family aufgetaucht sind. | |
| Viele von ihnen haben mit dem 51-jährigen Produzenten Dan Carey gearbeitet, | |
| auf dessen Label Speedy Wunderground auch das Debüt von Tiña veröffentlicht | |
| wurde. „Dan ist wie ein Kind, er hat kaum vorgefertigte Vorstellungen | |
| davon, was er gut findet. Wenn er Musik veröffentlicht, sind das immer | |
| Sachen, an die er glaubt. Sein Geschäftssinn spielt eine untergeordnete | |
| Rolle, ihm geht es mehr um die Begeisterung.“ | |
| Noch wichtiger war aber die Sozialisation im The Windmill, erzählt Loftin: | |
| „Es herrscht dort große Offenheit. Kategorien wie Geschlecht, Herkunft, | |
| aber auch Musikgenres spielen keine große Rolle. Und auch wenn dieser Club | |
| viele Gitarrenbands hervorgebracht hat, muss man da nicht mit Gitarre, Bass | |
| und Schlagzeug auf der Bühne stehen. Viele junge Musiker*innen finden hier | |
| ihre Ersatzfamilie. Es gibt Hilfe zur Selbsthilfe, und mit ihr lässt sich | |
| wiederum Selbstvertrauen aufbauen. Es ist ein Ort, an dem man sich | |
| angstfrei ausprobieren kann.“ | |
| Natürlich ist die Geschichte von Krise und Ausweg eine, die sich gut | |
| verkaufen lässt, und so wird dieses Album auch vermarktet. Aber Loftin hat | |
| ja nicht zur Gitarre gegriffen und alles war gleich wieder gut – und das | |
| ist es auch heute noch nicht. „Positive Mental Health Music“ ist ein | |
| Versuch, in einer entfremdeten Welt Halt zu finden. Ein Soundtrack, der | |
| hilft, sich über Wasser zu halten in einer Gesellschaft, in der der Druck | |
| und der Neid immer größer werden. Und die Angst: „Je älter ich werde“, s… | |
| Loftin, „desto mehr erschreckt es mich, dass das, wonach wir uns alle | |
| sehnen, in dieser Welt kaum Platz hat: eine Art innerer Frieden, der daher | |
| kommt, dass wir von jemandem gesehen und geliebt werden.“ | |
| 4 Jan 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Schneider | |
| ## TAGS | |
| Indie | |
| Pop | |
| London | |
| Folk Music | |
| Pop | |
| Neues Album | |
| Kolumne Habibitus | |
| Pop | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Debütalbum von Naima Bock: Epiphanie mit Wohnmobil | |
| Die britische Musikerin Naima Bock findet auf ihrem Debütalbum „Giant Palm“ | |
| beim Driften zu sich selbst. Das geht seltsam zu Herzen. | |
| Neue Alben von Sleaford Mods und Shame: Mal schön auf dem Teppich bleiben | |
| Sie setzen No-Bullshit-Haltung gegen den Brexit-Größenwahn: Neue Alben von | |
| Sleaford Mods und Shame verpassen dem Inselreich eine Realitätsklatsche. | |
| Neues Album von Taylor Swift: Mehr böser Wolf wäre besser | |
| Mit ihrem neuen Album „Evermore“ geht Taylor Swift unter die | |
| Märchenerzählerinnen. Die Musik des US-Superstars ist orchestral üppig. | |
| Die Rückkehr des Vokuhilas: Irritierend und trotzdem da | |
| 2020 wird das Versprechen, das im Vokuhila steckt, endlich eingelöst: seine | |
| Wandlungsfähigkeit besonders für nichtbinäre und androgyne Personen. | |
| Neues Album von Future Islands: Flennen mit den Profis | |
| Große Gefühle sind bierzeltkompatibel: Die US-Band Future Islands lässt es | |
| auf ihrem neuen Album „As Long As You Are“ wieder menscheln. |