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# taz.de -- Klimaaktivismus und Rechtsbruch: Legitime Gesetzesverstöße
> Der Letzten Generation wird vorgeworfen, ihre Straßenblockaden in Berlin
> seien Straftaten. Dabei sind sie es, die gegen Rechtsbruch demonstrieren.
Bild: Ein Polizist löst die Finger eines Demonstranten von der Fahrbahn, der s…
berlin taz | Die Repression gegenüber den Klimaaktivist:innen der
Letzten Generation, die immer wieder Autobahnausfahrten und
Straßenkreuzungen in Berlin blockieren, hat zugenommen. Vergangene
[1][Woche mussten 24 von ihnen erstmals für einen Tag in den Knast] – nicht
aber wegen einer konkreten Straftat, sondern um weitere Blockaden zu
verhindern. Solche präventiven Ingewahrsamnahmen hatten zuvor die [2][CDU]
und die [3][Berliner Polizeigewerkschaft GdP] gefordert.
Auch aus der Regierung waren die Töne zuletzt rauer geworden. Berlins
Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Innensenatorin Iris
Spranger (beide SPD) warfen den Aktivist:innen vor, Straftaten zu
begehen, und forderten schnellere Verfahren und höhere Strafen. Spranger
redete sogar von Erpressung und erklärte, [4][„mit den gesamten uns zur
Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln“] gegen die Letzte Generation
vorzugehen. Angeheizt wurde diese Rhetorik unter anderem durch Benjamin
Jendro, Sprecher der Polizeigewerkschaft GdP, der kritisierte, in Berlin
würden als „en vogue“ angesehene Straftaten nicht konsequent verfolgt, und
das Land als „Wohlfühlbiotop für Straßenblockierer“ bezeichnete.
Das alles zeigt: Wird die Law-and-Order-Fraktion mit zivilem Ungehorsam
konfrontiert, weiß sie nach wie vor nichts anderes zu tun, als mit
schärferer staatlicher Repression zu reagieren. Stets wird dabei
bekräftigt, dass Klimaprotest ja grundsätzlich gerechtfertigt sei, dies
aber nichts daran ändere, dass Straftaten begangen würden – und diese
müssten schließlich bestraft werden. Nach dieser Auffassung kann es
grundsätzlich keinen moralisch gerechtfertigten Rechtsbruch geben, weil das
Recht für wichtiger als die Gerechtigkeit gehalten wird. Es ist die
Geisteshaltung der engstirnigen Staatsdiener:innen und der ewigen
Mitläufer:innen.
Verfechter:innen des zivilen Ungehorsams haben sich stets gegen solche
Auffassungen aufgelehnt. Der Anti-Sklaverei-Aktivist Henry David Thoreau
kritisierte 1848, dass „die Mehrzahl der Menschen dem Staat nicht als
Menschen, sondern als Maschinen“ dienten. Für den Fall, dass das Befolgen
von Gesetzen einen selbst in Unrecht verstricke, empfahl Thoreau: „Brich
das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine
aufzuhalten.“ Dass es kein Recht auf blinden Gehorsam gibt, verdeutlicht
auch der Satz Hannah Arendts: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“
Selbst für einen liberalen Theoretiker wie John Rawls, dem wohl kaum
Radikalität vorgeworfen werden kann, konnte der gezielte und öffentliche
Gesetzesbruch ein legitimes Mittel darstellen, um auf ein verdrängtes Thema
hinzuweisen. Es ist deshalb Unsinn, den Aktivisten der Letzten Generation
[5][vorzuwerfen, sie seien Straftäter] – denn ohne den Regelbruch wäre
ziviler Ungehorsam einfach nur Gehorsam. Statt über Gesetzesbrüche sollte
darüber debattiert werden, ob der Ungehorsam der Letzten Generation
gerechtfertigt ist. Diese Debatte wird aber kaum geführt.
Warum nicht? Ein Grund ist wohl, dass wir in einer
[6][„Verdrängungsgesellschaft“] leben, wie der Klimaaktivist Tadzio Müller
sagt. Wir wollen nicht hören, dass die Vereinten Nationen ein [7][„globales
Kollapsszenario“] für realistisch halten. Wir ignorieren bestmöglich, dass
das das Erdklima auf unumkehrbare Kipppunkte zurast – und dass inmitten
dieser Krise die FDP [8][in der Nordsee nach Öl bohren] und die Ampel
[9][Flüssiggasterminals] bauen will. Erst recht versuchen wir zu
ignorieren, dass dies alles dem Interesse weniger Konzerne entspricht.
Es ist dieses „[10][Wissen, aber nicht wahrhaben wollen“], das die Letzte
Generation durchbrechen will. Ihre Blockaden sind der Versuch,
Autofahrer:innen zu einer Konfrontation mit der Klimakrise zu zwingen.
Das nervt natürlich. Es soll nerven. Denn es ist Sinn und Zweck von zivilem
Ungehorsam, die Scheinnormalität zu stören und die versteckten Spannungen
einer Gesellschaft an die Oberfläche zu bringen, wo sie nicht mehr
ignoriert werden können. Ziviler Ungehorsam soll „eine solche Krise
schaffen und eine so kreative Spannung aufbauen, dass eine Gemeinschaft
gezwungen ist, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen“, schrieb Martin
Luther King.
Im Universum des zivilen Ungehorsams agiert die Letzte Generation sogar
ziemlich moderat. Ihre Aktionen finden öffentlich statt, die
Aktivist:innen kündigen sie mit Klarnamen und Videoaufnahmen von sich
an, sie widersetzen sich nicht ihrer Verhaftung und akzeptieren alle
Strafen, die gegen sie verhängt werden. Dass sie gegen den Rechtsstaat
seien, wie die Polizeigewerkschaft insinuiert, stimmt also nicht. Im
Gegenteil: Ihre Kritik richtet sich gegen den Bruch der Bundesregierung mit
dem Pariser Klimaabkommen. Das staatliche Versagen in der Klimakrise sieht
die Letzte Generation als Verfassungsbruch, auf den sie mit dem Mittel des
Rechtsbruchs hinweist.
Mit Rawls lässt sich sagen: Die Aktivist:innen betreiben eine Form des
zivilen Ungehorsams, die letztlich auf eine Stärkung des Staates aus ist.
Dass die Letzte Generation Autofahrer:innen blockiert, zeigt ja, dass
die Aktivist:innen immer noch glauben, dass diese in Klimafragen etwas
zu melden haben. In Bezug auf ihren klimaschädlichen Lebensstil stimmt das
ja auch. Politisch ist es aber fragwürdig, weil kapitalistische Staaten
sich zumeist auch dann nicht gegen fossile Profitinteressen stellen, wenn
es dafür demokratische Mehrheiten gibt.
Der staatskonforme zivile Ungehorsam der Letzten Generation ist nicht
selbstverständlich. Mit Gruppen wie Ende Gelände stehen längst radikalere
Ansätze im Raum, die zivilen Ungehorsam mit dem Ziel einer Revolution des
politischen und wirtschaftlichen Systems betreiben. Das sollten Giffey,
Spranger und die GdP bedenken, wenn sie die Aktivist:innen der Letzten
Generation diskreditieren. Denn reden sie nicht mit ihnen, werden sie sich
mit Gruppen auseinandersetzen müssen, die Klimaschutz nur noch gegen
staatliche Institutionen durchzusetzen versuchen.
Giffey und Co. könnte dann nur noch entgegnet werden, was Thoreau einem
Steuereintreiber sagte, der ihm Geld für einen Krieg im Interesse der
sklavenhaltenden Großgrundbesitzer abknöpfen wollte: „Wenn du wirklich
etwas tun willst, dann gib dein Amt auf.“
17 Jul 2022
## LINKS
[1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/das-ende-des-wohlfuehl-biotopsfuer-klima…
[2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/immer-wieder-autobahn-blockaden-in-berli…
[3] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2022/07/berlin-gewerkschaft-der-poliz…
[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article239807129/Letzte-Generation-…
[5] https://www.focus.de/politik/deutschland/kommentar-mit-ihrem-aggressiven-pr…
[6] https://twitter.com/MuellerTadzio/status/1546028049568829440
[7] https://bylinetimes.com/2022/05/26/un-warns-of-total-societal-collapse-due-…
[8] https://www.tagesspiegel.de/politik/mehr-oelfoerderung-in-nordsee-gegen-tem…
[9] /Umweltschuetzer-gegen-LNG-Terminal/!5849200
[10] https://www.zeit.de/green/2022-07/letzte-generation-klima-aktivismus-prote…
## AUTOREN
Timm Kühn
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