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# taz.de -- Muttermilch für Frühgeborene: Früh übt sich
> Ein Forschungprojekt untersucht, wie alle Frühchen unter 1.500 Gramm
> Zugang zu Muttermilch bekommen könnten – zum Beispiel mithilfe von
> Milchspenden.
Bild: Muttermilch passt sich sehr genau an die Entwicklung und benötigte Nähr…
Nach der Geburt ihrer Tochter kippte Jessica Hübel ihre Muttermilch
wochenlang in den Abfluss. Das Kind kam in der 31. Woche per Kaiserschnitt
zur Welt, Jessica Hübel hatte eine Präklampsie, auch bekannt als
Schwangerschaftsvergiftung, die starken Bluthochdruck zur Folge hat. Weil
sie noch lange nach der Entbindung Blutdrucksenker nehmen musste, kam ihre
Milch für die Tochter vorerst nicht infrage.
Mit dem Wegkippen war sie nicht allein: Auf der neonatologischen
Intensivstation traf sie eine andere Mutter, die ihre Milch entsorgen
musste – weil sie viel mehr produzierte, als der Säugling brauchte. „Und da
habe ich mich natürlich gefragt: Warum kann sie mir ihre Milch nicht
einfach abgeben?“
Wissenschaftlich ist unbestritten, [1][dass Muttermilch Frühgeborene
bestmöglich versorgt und überlebenswichtig sein kann]. Beispielsweise ist
das Risiko für Infektionen des Magen-Darm-Trakts, die sogenannte
nekrotisierende Enterokolitis, sehr viel geringer. Hübels Tochter, die zu
Beginn künstliche Säuglingsnahrung erhielt, erkrankte daran. Muttermilch
ist für Frühgeborene zudem leichter verdaulich, fördert Sehvermögen und das
Hirnwachstum.
Forscher:innen haben nachgewiesen, dass Kinder, die über zwölf Monate
gestillt werden, später einen leicht höheren Intelligenzquotienten
besitzen. Eine Studie in der Fachzeitschrift NeuroImage konnte sogar
sichtbar machen, dass die Myelinscheiden, die die Reizweiterleitung von
Nervenzellen im Gehirn optimieren, im ersten Lebensjahr schneller wachsen.
Die Forscher:innen vermuten, dass das an den langkettigen Fettsäuren in
der Muttermilch liegt.
Besonders bei Frühgeborenen passt sich die Milch sehr genau an die
Entwicklung und benötigte Nährstoffe an. Neben Fett und Kohlenhydraten
enthält sie Hormone, Proteine, Enzyme, Prä- und Probiotika. Zahlreiche
Studien belegen, wie günstig diese Zusammensetzung ist. Laut dem
Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) reduziert Stillen in den ersten
vier bis sechs Monaten die Anzahl von Infektionen um 40 bis 70 Prozent.
Muttermilch zu teilen ist aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll – und
mancherorts auch möglich. In Deutschland gibt es 30 Humanmilchbanken, die
Milch von Spenderinnen weiterverteilt. Darauf kommen allerdings 200
Perinatalzentren, also Einrichtungen für Frühgeborene. Das heißt, nur
wenige Standorte haben Zugang zu diesen Milchbanken.
Dass nicht einfach jede Neonatologie ihre eigene kleine Milchbank aufbaut,
liegt auch an juristischen Unklarheiten. „In Deutschland ist nicht genau
bestimmt, ob es sich bei Muttermilch um ein Lebensmittel, ein Arzneimittel
oder eine Organspende handelt“, sagt Nadine Scholten, Versorgungsforscherin
an der Uni Köln. Das führe dazu, dass Bundesländer unterschiedlich mit
gespendeter Milch verfahren. In einigen muss sie wie Kuhmilch pasteurisiert
werden – was die Wirksamkeit reduziert – in anderen kann sie roh verfüttert
werden. Scholten und ihr Team haben deswegen ein juristisches Gutachten in
Auftrag gegeben, das die Grundlage für einheitliche Regeln schaffen soll.
Gemeinsam mit Till Dresbach von der Uniklinik Bonn leitet Scholten ein
großes Forschungsprojekt zum Thema Muttermilch für Frühgeborene. [2][Bis
2024 läuft das Projekt mit dem Namen „Neo-Milk“ noch]. Der Innovationsfonds
der Bundesregierung fördert es mit 4,7 Millionen Euro.
## „Man muss doch sehen können, wofür man’s macht“
Rechtssicherheit im Umgang mit Spenderinnenmilch ist aber nur ein kleiner
Teil dessen, was sich das Forschungsprojekt zum Ziel gesetzt hat. Nach Ende
der vierjährigen Studie soll der Weg dafür bereitet sein, dass irgendwann
alle rund 10.500 Frühgeborene, die in Deutschland jedes Jahr mit einem
Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm zur Welt kommen, mit Muttermilch
versorgt werden können. Essenziell dafür ist zum einen ein flächendeckendes
Netz von Humanmilchbanken, zum anderen die sogenannte strukturierte
Stillförderung.
Damit die Milchbildung nach der Entbindung in Gang kommt, brauche es Nähe
zum Kind, Ruhe, Wohlbefinden und Unterstützung beim Abpumpen, sagt Nadine
Scholten. Erste Befragungen von Müttern, deren Kinder gleich nach der
Geburt auf einer Neonatologie behandelt wurden, zeigen, dass diese Aspekte
oft zu kurz kommen. Besonders der Umgang mit der Milchpumpe kann anfangs
mühsam, frustrierend und – falsch angewendet – schmerzhaft sein. „Wir se…
an unseren Fragebögen, dass da oft wichtige Zeit am Anfang nicht genutzt,
Abpumpen zu wenig thematisiert wird und vor allem der Hautkontakt zu den
Kindern oft erst zu spät kommt.“
Förderlich wäre schon, das eigene Kind anschauen zu können, während die
Pumpe arbeitet, doch auch das ist manchmal nicht möglich. Jessica Hübel
sitzt die erste Zeit in einem eigens fürs Stillen eingerichteten Raum,
„einer Art Abstellkammer“ mit unbequemen Plastikstühlen und weißen
Trennwänden. „Ich habe mir dann Videos meiner Tochter auf dem Handy
angeschaut“, sagt Hübel. „Man muss doch sehen können, wofür man’s mach…
Die Forschenden von Neo-Milk haben im Rahmen der Studie auch medizinisches
Personal befragt, und „generell können wir sagen, dass die Relevanz und
Wichtigkeit der Versorgung mit Muttermilch gesehen wird“, sagt Scholten.
Aber Stillförderung koste nun mal Zeit, oft sei das Personal knapp und
Milchpulver nähre die Frühgeborenen eben auch. Dabei würden ja schon
Kleinigkeiten im Umgang mit den Müttern helfen, beispielsweise regelmäßig
nachzufragen, wie gut es klappe, ermutigende Worte an sie zu richten.
## Handbücher, digitale Schulungen, Apps
Einige Schwangere wissen, dass ihr Kind voraussichtlich zu früh zur Welt
kommt und befinden sich schon Tage oder Wochen vor der Geburt auf Station.
„Diese Zeit könnte man gut nutzen, um das Thema Stillen und Muttermilch für
Frühgeborene schon mal anzusprechen, gegebenenfalls Kolostrum zu gewinnen.“
Kolostrum ist die sogenannte Vormilch, die bei einigen Schwangeren auch
schon vor der Geburt gebildet wird. Es handelt sich meist nur um winzige
Mengen – doch die sind wertvoll. Kolostrum enthält besonders viele
Antikörper, weiße Blutkörperchen, Vitamine, Mineralstoffe sowie Proteine.
Viel zu oft ginge Kolostrum einfach verloren, sagt Scholten, dabei helfe
dieser hochkonzentrierte Mix Frühgeborenen ganz besonders bei Immunabwehr
und Verdauung.
Um Mitarbeiter:innen auf Neonatologien für das Thema zu
sensibilisieren, will das Neo-Milk-Team ein Handbuch herausbringen, das den
aktuellen Stand der Wissenschaft zur Wirksamkeit von Muttermilch für
Frühgeborene und stillfördernde Maßnahmen zusammenfasst. Außerdem wollen
sie digitale Schulungen für das medizinische Personal konzipieren und eine
App für Eltern entwickeln, die mit Videos erklärt, welche Tricks gegen
Milchstau helfen, wie Abpumpen funktioniert und alle paar Stunden mit einer
Push-Meldung daran erinnert.
Bestenfalls greife auf der Neonatalogie beides ineinander: frühzeitige
Stillförderung und die Möglichkeit, Spendenmilch zu verwenden, wenn die
eigene nicht nutzbar ist, auf sich warten lässt, man nicht stillen möchte
oder nicht stillen kann. Die Zeit auf der Neonatologie kann für Eltern
psychisch enorm belastend sein, und Stillen ist ein gesellschaftlich
vorbelastetes Thema, das mit viel Druck verbunden ist. Indem gewährleistet
wird, dass auf der Station Humanmilch zur Verfügung steht, die zur
Entwicklungsstufe des eigenen Frühgeborenen passt und Wochen überbrücken
kann, bis die Mutter selbst genug produziert, soll dieser Druck genommen
werden.
Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Zum Ende des Projekts sollen
bestenfalls bereits 15 neue Humanmilchbanken entstanden sein, die aktuell
in 15 Kliniken getestet und evaluiert werden. Um den Kliniken Arbeit zu
erleichtern, wollen die Wissenschaftler:innen aus Bonn und Köln
grundlegende Standards für Humanmilchbanken festlegen – und Neugründungen
unterstützen. Damit eines Tages keine Milch mehr im Abfluss landet, die
noch jemanden sattmachen könnte.
18 Jul 2022
## LINKS
[1] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6198081/
[2] https://neo-milk.uni-koeln.de/
## AUTOREN
Leonie Gubela
## TAGS
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