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# taz.de -- Dystopie aus dem Jahr 2054: Botschaft killt Filmkunst
> Mit „Everything Will Change“ verfolgt Marten Persiel ein Anliegen, das
> ihm allzu wichtig ist: So bleibt der Film frei von Tempo und Witz.
Bild: Alles in Rot- und Blautönen: Jessamine-Bliss Bell schaut als Cherry durc…
Bremen taz | Im Jahr 2054 gibt es keine Giraffen mehr. Und die Menschen
wissen nicht einmal mehr, dass es einmal eine Tiergattung mit diesem Namen
gegeben hat. Dies ist die Prämisse von „Everything Will Change“, den
[1][Regisseur Marten Persiel einen Science+Fiction-Film nennt,] und in dem
er von drei jungen Menschen erzählt, die wie Posterboys und -girls für die
„Friday for Future“-Bewegung wirken.
Ben, Finni und Cherry sind angezogen und frisiert wie junge woke Rebellen
von heute, und so sprechen sie auch. Dazu gehört, dass sie Retro cool
finden. Aber das Retro von 2054 ist nicht etwa das Heute von heute, sondern
es sind die guten alten analogen Zeiten.
Die drei fahren in einem Mercedes-Benz aus den 1970er-Jahren und kramen in
einem Antiquitätenladen in einer Kiste mit Vinylschallplatten herum. Ben
findet dort die LP „Pet Sounds“ von den Beach Boys und aus der Plattenhülle
fällt das Foto von einer Giraffe – ein Tier und ein Wort, das keiner von
ihnen kennt.
Dieser erste Akt des zum Teil [2][in Kiel gedreht]en Films macht neugierig,
und so stört es in seinen ersten Minuten auch nicht, dass Persiel sich kaum
Mühe dabei gegeben hat, eine auch nur halbwegs glaubwürdige Dystopie zu
kreieren. Ihm reicht es, dass im Jahr 2054 alles steril, zubetoniert und
ungemütlich ist. Und auch die meisten Farben scheinen ausgestorben zu sein.
Denn Persiels Kameramann Felix Leiberg arbeitet mit extremen Filtern, die
alles in Rot- und Blautönen erscheinen lassen – oder er filmt in Infrarot.
## Im „verborgenen Schloss“
Ben, Finni und Cherry machen sich auf die Suche nach Informationen über die
Giraffe und andere ausgestorbene Tiere. Sie bekommen dafür von einem
weisen, alten Schallplattenverkäufer eine Schatzkarte, die sie in knapp
zwei Minuten zu dem „verborgenen Schloss“ führt, in dem alte
Wissenschaftler*innen und Denker*innen das analoge Gedächtnis der
Menschheit archiviert haben.
Das Abenteuer einer Schatzsuche interessiert Persiel dabei genauso wenig
wie der Mythos einer verschworenen Gemeinde von Philosoph*innen und
Akademiker*innen. All diese Motive werden in seinem Film nur angerissen.
Ihm geht es ausschließlich darum, dass die ahnungslosen Jugendlichen über
das riesige [3][Artensterben im frühen 21.Jahrhundert] aufgeklärt werden.
Dafür schauen sie sich Ausschnitte aus Tierfilmen an – und viele
Interviewsequenzen mit Wissenschaftler*innen, Philosoph*innen und
Künstler*innen, die im Jahr 2019 vor der düsteren Zukunft warnen.
Diesen Teil seines Films, der immerhin etwa die Hälfte ausmacht, hat
Persiel als enttäuschend konventionellen Dokumentarfilm inszeniert. Da gibt
es viele schöne Tieraufnahmen: meistens idyllisch – aber auchmal verstörend
wie etwa die Bilder von einer gerade von einem Schuss getroffenen Giraffe.
Und dann sind da die Spezialist*innen, die wichtige und kluge Sachen sagen,
aber durchgehend in der immer gleichen Kameraeinstellung aufgenommen
wurden.
Hier war ihm seine Botschaft so wichtig, dass er sich um die Präsentation
wenig Gedanken gemacht hat. Und so erscheint das Dutzend Expert*innen, zu
denen der Biologe Thomas E. Lovejoy, die Agraringenieurin Cary Fowler, der
Meeresbiologe Daniel Pauly und der Filmemacher Wim Wenders zählen,
zunehmend wie eine Schar von Prediger*innen. Ihre mahnenden Worte wirken
eher belehrend als erhellend.
Dass ausgerechnet diese Filmaufnahmen unsere Zukunft und die Natur retten
sollen, ist Persiels kühnster Einfall. Aber genauso passiert es: Die drei
Ökoheld*innen finden im Kofferraum ihres Autos eine Zeitmaschine, die so
aussieht wie ein Küchengerät aus den 1980ern und an der man, schön analog,
die Jahreszahl einstellen kann.
Damit schicken sie ihren Film ins Jahr 2020, und fahren dann mit Karacho
mit ihrem Mercedes durchs Bild. Dies ist natürlich ein Zitat aus der
Science-Fiction Komödie „Zurück in die Zukunft“, aber auch hier wird ein
populäres Genre wieder nur für die Oberflächenreize genutzt.
## Konstruiert und bemüht
Wie die Schatzsuche ohne Schatzsuche ist dies eine Zeitreise ohne
Zeitreise, die dann ebenfalls in ein bis zwei Filmminuten abgehandelt ist.
So droht hier auch kein Zeitparadoxon, das in diesem Genre so essenziell
ist wie die Schießerei beim Western. Persiel lässt Ben, Finni und Cherry
stattdessen aus ihrem Auto in ein plötzlich in natürlichen Farben
leuchtendes Licht steigen.
Marten Persiel hat vor zehn Jahren mit seinem Debütfilm „This Ain’t
California“ bewiesen, dass er es besser kann. Dieser Hybridfilm über die
Skaterscene von Ostberlin in den 1980er-Jahren war zwar umstritten, weil
Persiel inszenierte Szenen als dokumentarisches Material ausgab, aber er
hatte Tempo, Witz und der Regisseur liebte offensichtlich seine Figuren und
ihr Milieu. Nichts davon ist in „Everything Will Change“ zu spüren. Statt
dessen wirkt hier alles konstruiert und bemüht.
16 Jul 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Deutscher Film
Film
Dystopie
Science-Fiction
Meere
Schwerpunkt Klimawandel
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