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# taz.de -- Wahlrechtsreform in Bremen: Mehr ist manchmal mehr
> Die Bürgerschaft stimmt für mehr Parlamentssitze. Der Verein „Mehr
> Demokratie“ verurteilt das – doch die Befürworter haben die Justiz auf
> ihrer Seite.
Bild: Da sind's noch 84 Abgeordnete: Konstituierende Sitzung der Bremer Bürger…
Bremen taz | Es klingt kontraintuitiv: Die Bremer Bürgerschaft wächst –
weil die Stadt Bremerhaven schrumpft. Das Bremer Parlament hat in der
vergangenen Woche sein Wahlrecht verändert. In der nächsten
Legislaturperiode ab 2023 werden 87 Parlamentarier*innen die etwa
680.000 Menschen aus Bremen und Bremerhaven vertreten.
Eine Entscheidung war notwendig geworden, weil die Stadt Bremerhaven
zuletzt Bevölkerung verloren hatte. Die Seestadt stellt aktuell 15 der 84
Abgeordneten für das Bundesland. Im Verhältnis zur Größe bedeutet das aber,
dass Bremerhaven überrepräsentiert ist: In der Stadt Bremen braucht es mehr
Wähler*innen, um eine*n Abgeordnete*n zu wählen, die einzelne Stimme
ist also weniger wert.
Um das Problem zu lösen, hätte sich die Bürgerschaft auch entscheiden
können, für die nächste Wahl einen Sitz zu streichen – Bremerhaven hätte
dann noch 14 Abgeordnete stellen dürfen, Bremen weiterhin 69. Stattdessen
hat man sich entschieden, die Plätze für die Stadt Bremen aufzustocken –
das verursacht jährlich 400.000 Euro zusätzliche Kosten, schätzt der Senat.
Das weckt den Zorn der Lokalberichterstattung: Der Weser-Kurier bemängelt
in seinem Kommentar „den Eindruck der Selbstbedienung“ und sieht „eine
politische Torheit ersten Grades“. Und bei Butenundbinnen, dem
Regionalmagazin von Radio Bremen, schimpft man über
radikal-opportunistische, kleinmütige, entrückte Abgeordnete und fragt
„Hamse die noch alle?“
## Mehr Sitze für mehr Rechtssicherheit
Tatsächlich ist die Lage etwas komplizierter, was sich auch daran zeigt,
dass neben den Mitgliedern der rot-grün-roten Koalition auch einige
Abgeordnete von CDU und FDP für die neue Regel gestimmt haben. Erst einmal
stimmt: Die Entscheidung ist für die Abgeordneten persönlich sehr
vorteilhaft: Für alle wächst damit die Chance, auch bei der nächsten Wahl
in die Bürgerschaft einzuziehen.
Dazu kommt: Bremerhaven einen Platz wegzunehmen, hätte mit Sicherheit
Widerstand hervorgerufen: Die Stadt am Meer hatte bei der großen
Wahlrechtsreform 2003 noch 16 Mandate zugesprochen bekommen; die Zahl jetzt
weiter von 15 auf 14 zu kürzen, hätte wahrscheinlich für innerparteilichen
Unfrieden gesorgt.
Doch hinter der Entscheidung steht mehr als der Wunsch nach einer
persönlichen Jobgarantie und dem Ausweichen vor einem Konflikt mit
Bremerhaven: Es geht um Rechtssicherheit – und [1][letztendlich um
Demokratie.] Seit die Bürgerschaft 2003 von 100 auf 83 geschrumpft und dann
auf 84 Abgeordnete erweitert wurde, reicht das Erreichen der
Fünf-Prozent-Hürde in Bremerhaven rein rechnerisch nicht mehr aus, um
sicher einen Platz in der Bürgerschaft zu bekommen.
Das macht die Wahl nicht per se illegitim – allerdings hat der Bremer
Staatsgerichtshof der Bürgerschaft [2][schon 2004 aufgetragen,] eine zu
große Abweichung der benötigten Stimmen von der Fünf-Prozent-Hürde zu
vermeiden. Seit damals haben sich die Zugangsvoraussetzungen allerdings
weiter verschlechtert: Wurden 2004 noch 6,25 Prozent für einen garantierten
Einzug benötigt, sind es mittlerweile schon 6,67 Prozent. Würde Bremerhaven
einen weiteren Sitz verlieren, verschöbe sich das Verhältnis weiter.
## Wahlrecht muss auch Unwahrscheinliches mitdenken
Der Verein „Mehr Demokratie“ weist die Bedenken des Staatsgerichtshofs
zurück: „Faktisch liegt die Wahrscheinlichkeit dafür bei knapp über null
Prozent“, sagt Sprecher Marcus Meier. „Nur, wenn ein Dutzend Parteien in
Bremerhaven über fünf Prozent kämen, könnte es dazu kommen, dass jemand
nicht einzieht.“
Das stimmt allerdings nicht – auch in anderen Konstellationen wären nicht
unter allen Umständen ausreichend Sitze für die kleinste Partei mit knapp
fünf Prozent vorhanden. „Klar ist das zum jetzigen Zeitpunkt
unwahrscheinlich“, sagt Nelsson Janßen, Linke-Abgeordneter aus Bremerhaven.
„Aber es ist nicht unmöglich. Das Wahlrecht muss auch für unwahrscheinliche
Ereignisse ausgelegt sein.“
## Mehr Demokratie sieht Politikverdrossenheit
Der Bremer Verein „Mehr Demokratie“ kritisiert trotzdem, die Bürgerschaft
trage mit ihrer Entscheidung zur Politikverdrossenheit bei. „Beim einfachen
Bürger könnte ankommen:,Die kriegen den Hals nicht voll'“ sagt Meier. Noch
diese Woche will die NGO eine Petition starten, um die Entscheidung zur
Vergrößerung des Parlaments zurückzudrehen.
Die Kritik der Gegner*innen entzündet sich nicht nur an den Kosten,
sondern auch an der Größe des Parlaments selbst: Nirgendwo in der Republik
kommen weniger Bürger*innen auf eine*n Landtagsabgeordnete*n. Nicht
beachtet wird dabei allerdings, dass in Bremen ein Halbtagsparlament
arbeitet – Abgeordnete sollen durchaus noch einem weiteren Beruf nachgehen.
Anders [3][als der Bundestag] ist die Bremer Bürgerschaft seit 2003 kaum
noch gewachsen.
## Bremer Parlamentarier haben Doppelfunktion
Bürgerschaftsmitglied Magnus Buhlert hat für die Debatte und die Petition
von „Mehr Demokratie“ auch deshalb kein Verständnis – und hält sie selb…
für einen Beitrag zu mehr Politikverdrossenheit. Als einer von zwei
FDP-Abgeordneten hat auch er für die Vergrößerung gestimmt. „So teuer sind
wir nicht“, sagt er. Für die Stadt Bremen übernehmen die Abgeordneten
zusätzlich die Aufgaben eines Stadtrats – eine Doppelfunktion also.
„Die Opposition hat die Aufgabe, den gesamten Öffentlichen Dienst zu
kontrollieren“, so Buhlert. „Wenn man bedenkt, dass die Rechten dabei ein
Totalausfall sind, dann kontrollieren am Ende vielleicht 40 Menschen 12.000
Leute aus der Verwaltung. Da ist es sicherlich nicht zu viel, wenn wir ein
wenig wachsen.“
10 Jul 2022
## LINKS
[1] /Demokratie-zum-Mitmachen/!5781982
[2] https://www.staatsgerichtshof.bremen.de/entscheidungen/entscheidungsuebersi…
[3] /Ampel-einigt-sich-auf-Wahlrechtsreform/!5866126
## AUTOREN
Lotta Drügemöller
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