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# taz.de -- Stadtfeier in Friedrichstadt: Kleinstadt-Musical
> In Friedrichstadt wird 400-jähriges Bestehen gefeiert. Zum Geburtstag
> schenkt sich der kleine Ort in Nordfriesland in Gemeinschaftsarbeit ein
> Musical.
Bild: Die Probe mit Kostüm beim Friedrichstädter Musical „Am Markt“
Friedrichstadt taz | Der Einsatz klappt nicht. Unzufrieden schickt
Choreograf Lars Bjørn die Kinder des Chors zurück auf die Startposition.
Wieder hebt Dirigentin Bente Stenger ihren Taktstock und die ersten Töne
des Liedes dröhnen durch die Turnhalle. Die Kinder laufen in die Mitte der
Bühne, die an diesem Probentag nur ein Kreis auf dem Hallenboden ist. Es
sieht aus wie pures Chaos, aber Bente Stenger ist dennoch begeistert: „Wir
kommen heute große Stücke weiter“, sagt die Komponistin des Musicals „Am
Markt“. Mit dem Stück feiert die nordfriesische Kleinstadt Friedrichstadt
ihren 400. Gründungstag – Hunderte Beteiligte von der Kita bis zur
Schützengilde sind dabei.
Seit fünf Jahren laufen die Proben, inzwischen fühlt es sich fast ein wenig
an wie in der [1][Passionsspielstadt Oberammergau]. Was wird bleiben, wenn
sich der letzte Vorhang senkt?
Vor einem Jahrhundert, zum 300. Gründungstag 1921, führte Friedrichstadt
schon einmal ein Theaterstück auf, als Höhepunkt kam ein Darsteller als
Stadtgründer Herzog Friedrich angeritten. Die Texte waren aus heutiger
Sicht unerträglich patriotisch, aber den Leuten hat es offenbar gefallen:
„Der Markt war schwarz von Menschen“, berichtet Christiane Thomsen,
Archivarin und Museumsleiterin des Städtchens. Auch in ihrer Familie lebte
die Erinnerung fort: „Meine Großmutter war als Kind dabei, sie hat mir
davon erzählt.“ So ein Ereignis noch einmal zu schaffen, das war die Idee,
die Thomsen und die Chorleiterin Stenger, auch Friedrichstädterin, bei
einigen Gläsern Wein im Jahr 2017 entwickelten. „Aber dass das wirklich
geklappt hat und so groß geworden ist, damit hatte ich nicht gerechnet“,
sagt Thomsen.
Groß: Rund 300 Personen machen mit. Das bedeutet rechnerisch, dass jedeR
Zehnte der knapp 2.700 Einwohner*innen des Städtchens dabei ist. Auch
wenn ein Chor aus Dänemark und weitere Musiker*innen aus Orten im
Umland stammen, gibt es vermutlich kaum eine Familie in Friedrichstadt, die
nicht in irgendeiner Weise am Stück beteiligt ist.
Neben denen, die auf der Bühne stehen, gibt es diejenigen, die Brötchen für
die Proben schmieren, Kostüme nähen oder am Tag der Aufführung die Karten
abreißen. „Das war ja das Ziel“, sagt Birte Überleer, die die Gesamtleitu…
des Projekts übernommen hat. Eigentlich, meint sie nachdenklich, sei das
eine „größenwahnsinnige Idee“.
## Planstadt Friedrichstadt
Friedrichstadt wurde vor 400 Jahren planmäßig angelegt, mit parallel
verlaufenden Straßen und Kanälen. Der Stadtgründer, Herzog Friedrich III.
von Schleswig-Gottorf, wollte an den Flüssen Eider und Treene eine
Handelsmetropole errichten und warb dafür Mitglieder verfolgter
Glaubensgemeinschaften an. Es kamen Remonstranten aus Holland und
freikirchliche Mennoniten, auch jüdische Familien durften sich ansiedeln.
Einst gab es fünf christliche Kirchen und eine Synagoge. [2][„Stadt der
Toleranz“] ist der Slogan, mit dem Friedrichstadt bis heute wirbt.
Während in der Turnhalle der Chor das Lied „Am Markt“ anstimmt, drängen
sich etwa zwei Kilometer entfernt auf dem echten Marktplatz die
Tourist*innen. Alle Stühle vor dem Eiscafé sind besetzt, Fahrräder hoppeln
über das Kopfsteinpflaster. Eine Gruppe Frauen, zwei davon tragen
Kopftücher, baut sich für ein Foto vor den malerischen Fassaden auf. Vor
einem Bäckereicafé am Rande des Platzes sitzen Einheimische, schauen auf
das Touristentreiben und reden über „Wörter, die man heute nicht mehr sagen
darf“. Also etwa den rassistischen Begriff für Schokokuss oder den für ein
Schnitzel mit roter Soße. „Eskimo geht auch nicht mehr“, grummelt einer der
Männer. So viel zur Stadt der Toleranz.
Immer noch existieren die fünf christlichen Gemeinschaften, aber die
Synagoge ist heute ein Kulturzentrum und eine islamische Gemeinde fehlt.
Religionsstreit gibt es in Friedrichstadt nicht, aber eine andere Linie
durchaus: die zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen. Dass es bei dieser
Trennung nicht bleibt, ist auch ein Ansatz für das Musical. So betonen die
Musical-Verantwortlichen freudig, dass viele Neu-Bürger*innen im Chor
mitsingen oder im Orchester musizieren.
„Wir wollten nicht nur ein schönes Stück auf die Bühne bringen, sondern die
Leute auch dazu bringen, ihren Ort mit neuen Augen zu sehen“, sagt Birte
Überleer in einer Probenpause. Das Stück ist streng genommen eher eine
Revue. In den 13 Liedern geht es um Daten und Ereignisse, eines beschreibt
die vielen Betriebe, die es früher gab, Mühlen, Werften, Schmiede und
Brauerei: „Es lärmt nicht mehr, es hämmert nicht, es wird nicht produziert
– doch die Tourismusindustrie, die läuft hier wie geschmiert.“
## Fluch und Segen
Die Besucher*innen seien Fluch und Segen zugleich, sagt Hannelore
Zastrow, die mit 69 Jahren zu den Älteren auf der Bühne gehört. Viele
Einheimische meiden die Innenstadt in der Ferienzeit. Die Rede ist von der
„Versylterung“ des Ortes: Die Geschäfte in der Altstadt bieten Andenken und
Geschenkartikel an, kaum etwas für den täglichen Gebrauch. Gleichzeitig
steigen die Preise für Immobilien. Ein Haus, nicht einmal in guter Lage,
werde aktuell für eine Million Euro angeboten, sagt eine Friedrichstädterin
kopfschüttelnd: „Und ich wette, es findet sich jemand, der das kauft.“
Gleichzeitig fehlen Baugrund und Arbeitsplätze. Familien ziehen weg, dafür
stehen schick sanierte Häuschen im Zentrum fast das ganze Jahr leer. Dass
nun Zugezogene auf der Musical-Bühne stehen, dass Kontakte entstünden, sei
ein Wert an sich, glaubt Urte Andresen vom Trägerverein „Musical“.
Auf der Bühne hallt eine Trommel – mit den krachenden Klängen beginnt das
Lied „Beschießung 1850“, eines der düsteren Kapitel der Stadtgeschichte.
Damals schleuderten Kanonen Feuer und Eisen gegen die Mauern, einige der
Kugeln stecken bis heute im Ziegelwerk. Zu Beginn der Proben schien der
Krieg nur eine ferne Erinnerung, aber heute, wo jeden Tag die Bilder aus
der Ukraine über die Bildschirme laufen, ist der Text erschreckend aktuell:
„Die erste Beschießung beginnt früh am Morgen – Häuser in Flammen“, he…
es in dem Lied.
Dywelke Wulff, mit elf Jahren eine der Jüngeren im Ensemble, hat durch das
Musical angefangen, sich mit der Stadtgeschichte zu befassen, sie ist zu
den Mauern mit den Eisenkugeln und hat sie zum ersten Mal wirklich
wahrgenommen. Die zwölfjährige Gloria Danquanan ist mit ihren Eltern erst
vor Kurzem in den Ort gekommen und sie gibt zu, dass sie sich nicht so für
die Historie interessiert. Aber beiden machen die Proben Spaß, und beide
wollen, dass es endlich losgeht. „Ich hab’ schon Kribbeln im Bauch“, verr…
Dywelke.
## Verzögertes Jubiläum
Denn die Aufführung, die für das Jubiläumsjahr 2021 geplant war, verzögerte
sich coronabedingt. Geübt haben Chöre, Orchester und Solist*innen
jahrelang in Kleingruppen, nun kommen sie mit Blick auf die [3][Premiere am
7. Juli] (Aufführungen gibt es bis zum 9. Juli) erstmals in der Turnhalle
zusammen. Darum sind Dirigentin Bente Stenger, Leiterin Birte Überleer und
Choreograf Lars Bjørn an diesem Tag zwischen Furcht vor der eigenen Courage
und Begeisterung über ihre Truppe hin- und hergerissen. Der Anspruch ist
hoch.
Zwar machen die meisten Beteiligten ehrenamtlich mit, aber die Leitungen
erhalten Honorar, auch Bühne und Kostüme kosten Geld. Urte Andresen,
Schatzmeisterin des Trägervereins, rechnet vor: Rund 177.000 Euro kostet
das Stück, das Geld stammt von Sponsoren und öffentlicher Förderung.
Die Stadt, die ursprünglich die Schirmherrschaft übernehmen wollte, aber
als verschuldete Gemeinde nicht durfte, gibt 20.000 Euro, ein Regionalfonds
zur deutsch-dänischen Zusammenarbeit sogar 24.000 Euro, Privatleute spenden
Kleinbeträge – und helfen mit: schneidern Kostüme, bauen Kulissen. Es sei
erstaunlich und beeindruckend, dass eine so kleine Stadt so viele Talente
und so viel Können aufbringe, sagt Überleer.
Was also wird bleiben? Ein Lied hat der Verein der Stadt geschenkt, es soll
künftig bei passenden Anlässen gespielt werden, sagt die Bürgermeisterin.
Aber alle paar Jahre so eine Aufführung zu stemmen, werde der Ort nicht
schaffen, sind sich die Verantwortlichen einig.
Immerhin wollen sich einzelne Gruppe weiter treffen, zum Singen,
Musizieren, Nähen. „Und ich denke, alle, die dabei sind, werden noch lange
davon erzählen“, sagt Archivarin Thomsen.
7 Jul 2022
## LINKS
[1] /Oberammergauer-Passionsspiele/!5837759
[2] https://www.friedrichstadt.de/live-vor-ort/stadtfuehrungen/religioese-vielf…
[3] https://musical-2021.de/
## AUTOREN
Esther Geißlinger
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
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Musical
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Theater
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