# taz.de -- Vor dem Linkenparteitag in Erfurt: Ungewisse Hoffnung aufs Morgenrot | |
> Die Linke trifft sich zum Parteitag in Erfurt. Auf dem dreitägigen | |
> Treffen sucht sie nach einem Ausweg aus ihrer Existenzkrise. | |
Bild: Einerseits kämpft die Linke ums Überleben, andererseits ist sie an vier… | |
## Das Parteitagsmotto | |
Das offizielle Parteitagsmotto hätte kaum besser gewählt sein können: „…… | |
kommt darauf an, sie zu verändern.“ Das passt gut auf den Zustand der | |
Linken – auch wenn der, von dem es abgeschrieben ist, in einem etwas | |
größerem Maßstab gedacht hat. Denn der Halbsatz stammt aus den | |
[1][Feuerbachthesen von Karl Marx]. Der ganze Satz lautet im Original von | |
1845: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es | |
kömmt drauf an, sie zu verändern.“ Nun ja, bevor sie daran denken kann, die | |
Welt zu verändern, wird die Linke erstmal bei sich anfangen müssen. Ob ihr | |
das gelingen wird? | |
***** | |
## Die Ausgangslage | |
Die Linkspartei befindet sich in einer tiefen Krise. Bei der vergangenen | |
Bundestagswahl schaffte sie mit 4,9 Prozent nur noch dank drei gewonnener | |
Direktmandate den Wiedereinzug ins Parlament. Bei den Landtagswahlen in | |
diesem Jahr bekam sie [2][Splitterparteiergebnisse] zwischen 1,7 und 2,6 | |
Prozent. In ihren besten Zeiten war die Linke in 13 von 16 | |
Landesparlamenten vertreten, heute sind es nur noch 8 – wobei Hessen das | |
einzig verbliebene westliche Flächenland mit einer Linksfraktion ist. | |
Mit Ausnahme Thüringens befindet sich die Linke auch in den östlichen | |
Bundesländern im Sinkflug, hier bewegt sie sich inzwischen um die 10 | |
Prozent, Tendenz fallend. Das liegt weit unter den Ergebnissen, die einst | |
die PDS holte, die zu ihren Hochzeiten überall im Osten über der | |
20-Prozent-Marke lag. | |
Laut einer [3][Studie der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS)] auf | |
der Basis einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts | |
Kantar können sich 18 Prozent der Wähler:innen vorstellen, für die Linke | |
zu stimmen. In den bundesweiten Umfragen rangiert die Linkspartei trotzdem | |
nur bei 4 Prozent. | |
***** | |
## Die Regierungsbeteiligungen | |
Während die Linkspartei einerseits [4][um ihr Überleben kämpft], ist sie | |
andererseits derzeit an vier Landesregierungen beteiligt, so vielen wie | |
noch nie in ihrer Geschichte: in Berlin, in Bremen, in | |
Mecklenburg-Vorpommern und in Thüringen, wo sie mit Bodo Ramelow den | |
Ministerpräsidenten stellt. | |
In diesen vier Ländern habe die Linkspartei gezeigt, dass sie „auch bei | |
allen Rückschlägen und Niederlagen wirksame Verbesserungen und Fortschritte | |
erzielen“ könne, heißt es in einem gemeinsamen [5][Brandbrief der | |
Vorsitzenden der Linken-Landesverbände] mit Regierungsbeteiligung. Dort sei | |
sichtbar, „dass wir für eine moderne sozialistische Politik stehen, die | |
sich von SPD und Grünen unterscheidet“. Es müsse auch wieder auf | |
Bundesebene gelingen, den Gebrauchswert der Linken als soziale Kraft | |
„erkennbar und erlebbar“ zu machen. | |
***** | |
## Die Parteitagsstadt | |
Nicht nur weil es die Hauptstadt des ersten und bisher einzigen Bundeslands | |
ist, in dem sie den Regierungschef stellt, hat das Thüringische Erfurt für | |
die Linkspartei eine ganz besondere Bedeutung. Denn hier verabschiedete sie | |
2011 – nach Abarbeitung von fast 1.400 Änderungsanträgen – ihr erstes und | |
bisher einziges Grundsatzprogramm. Beschlossen mit 503 Ja-Stimmen bei 4 | |
Gegenstimmen und 12 Enthaltungen wird das 75-seitige [6][„Erfurter | |
Programm“] seitdem in der Partei hochgehalten wie anderswo die Bibel. | |
Und warum ging die Linkspartei damals nach Erfurt? Wegen der Symbolik: Weil | |
hier bereits 120 Jahre zuvor „ein Programm der Arbeiterbewegung“ entstand, | |
wie es Oskar Lafontaine formulierte. 1891 beschloss die SPD ihr – | |
wesentlich kürzeres – [7][„Erfurter Programm“], das erste Grundsatzprogr… | |
der Partei nach dem Ende des Sozialistengesetzes Bismarcks. | |
***** | |
## Die inhaltlichen Konflikte | |
Drei Leitanträge, die der Parteivorstand eingebracht hat, sollen in Erfurt | |
verhandelt werden. Zwar bergen auch [8][der erste], in dem es vorrangig um | |
Klimagerechtigkeit und die sozialökologische Transformation geht, und | |
[9][der zweite] zur Veränderung der Parteistrukturen einiges | |
Konfliktpotenzial. | |
Heftig zur Sache wird es aber wohl vor allem bei [10][dem dritten Antrag] | |
gehen, dem zum Ukrainekrieg. Nur die Überschrift scheint nicht umstritten | |
zu sein: „Keine Aufrüstung, kein Krieg. Für eine neue Friedensordnung und | |
internationale Solidarität“. Ansonsten gibt es rund 400 Änderungsanträge. | |
Hauptstreitpunkt ist die Feststellung, Russland verfolge „eine | |
imperialistische Politik“, die das Putin-Regime „gegenüber der eigenen | |
Bevölkerung durch eine nationalistische, militaristische und autokratische | |
Großmachtideologie“ legitimiere. Das wollen zahlreiche | |
Antragsteller:innen streichen lassen, darunter die | |
Ex-Bundestagsfraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, die stattdessen eine | |
schärfere Kritik am Westen und an der Nato fordern. | |
Sprengkraft könnte auch die für Freitagabend angesetzte Generaldebatte zum | |
Thema „Kampf gegen patriarchale Machtstrukturen, Gewalt und Sexismus“ | |
haben, bei dem es um den Umgang mit den [11][MeToo-Vorwürfen in der | |
Linkspartei] geht. Per Twitter hat die Linksjugend [’solid] allerdings | |
versprochen, sie werde „auf dem Bundesparteitag weder Tomaten, Kuchen noch | |
andere Lebensmittel auf Parteimitglieder werfen“. | |
***** | |
## Das Personalkarussell | |
Nach dem [12][Rücktritt der Co-Vorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow] Mitte | |
April hat die Linke beschlossen, auf dem Parteitag in Erfurt ihre komplette | |
Parteispitze neu zu wählen. Alle Posten sind heftig umstritten. | |
So muss sich die [13][Parteivorsitzende Janine Wissler] bei ihrer | |
Wiederkandidatur der [14][Bundestagsabgeordneten Heidi Reichinnek] | |
erwehren. Hinzu kommt noch die frühere sächsische Landtagsabgeordnete Julia | |
Bonk, der aber keine Chancen eingeräumt werden. | |
Für den zweiten Vorsitzendenplatz kandidiert [15][Martin Schirdewan], der | |
Vorsitzende der Linken im EU-Parlament, gegen den sächsischen | |
Bundestagsabgeordneten [16][Sören Pellmann]. Außerdem gibt es noch fünf | |
weitere Basiskandidaturen, die aber als aussichtslos gelten. | |
Zur Einordnung: Die [17][41-jährige Hessin Wissler] kommt aus der | |
„Bewegungslinken“, der 46-jährige Thüringer Schirdewan gilt als | |
Pragmatiker. Ihre Wahl entspräche der Fortsetzung jener zentristisch | |
orientierten Parteispitze, wie es sie seit der Wahl 2012 von Katja Kipping | |
und Bernd Riexinger gibt. | |
Die Wahl der 34-jährigen Niedersächsin Reichinnek und des 45 Jahre alten | |
Sachsen Pellmann wäre hingegen ein Bruch damit. Nicht nur dass Pellmann | |
offensiv von Sahra Wagenknecht unterstützt wird, er und Reichinnek stehen | |
auch an der Spitze eines Personaltableaus, mit dem die umstrittenen | |
Bundestagsfraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali | |
offenkundig versuchen, eine ihr genehme Parteiführung zu installieren. | |
Falls das gelingen sollte, würde das rein machttaktisch motivierte | |
„Hufeisen“-Bündnis aus „reformerischen“ Gefolgsleuten von Bartsch und … | |
überwiegend linkskonservativen Anhänger:innen seiner früheren | |
Co-Vorsitzenden Sahra Wagenknecht, das bisher schon die 39-köpfige | |
Bundestagsfraktion dominiert, auch die Partei übernehmen. | |
Das gleiche Schema wie bei der Vorsitzendenwahl ist bei der Besetzung des | |
[18][Bundesgeschäftsführerpostens] erkennbar, wo mit Tobias Bank ein | |
Mitarbeiter der Bundestagsfraktion gegen den [19][Bewegungslinken Janis | |
Ehling], den früheren Geschäftsführer des Studierendenverbands Die | |
Linke.SDS, ins Rennen geht. Als Schatzmeisterin kandidiert die aus dem | |
Umfeld von Bartsch protegierte rheinland-pfälzische Landesvorsitzende | |
Melanie Wery-Sims gegen den Amtsinhaber Harald Wolf, den früheren Berliner | |
Wirtschaftssenator. | |
Ob die Bartschist:innen und die Wagenknechtianer:innen sich | |
durchsetzen werden, ist allerdings alles andere als ausgemacht. Die | |
Widerstände gegen sie sind groß. Wie die Mehrheitsverhältnisse auf dem | |
Parteitag letztendlich aussehen werden, ist derzeit schwer abschätzbar. | |
Zumal die einzelnen Strömungen keine monolithischen Blöcke bilden. Das gilt | |
allerdings genauso für die andere Seite, für die „Bewegungslinken“ und die | |
nicht Bartsch zuzurechnenden Reformer:innen vor allem aus Thüringen und | |
Berlin. | |
***** | |
## Das Jubiläum | |
Kaum zu glauben: Die Linkspartei feiert in diesem Jahr ihren 15. | |
Geburtstag. Am 16. Juni 2007 schloss sich die ostdeutsch geprägte PDS mit | |
der westdeutsch dominierten WASG zusammen. Die neue Linkspartei stehe „in | |
der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung“ und habe einen „historischen | |
Auftrag“, rief Oskar Lafontaine auf dem Fusionsparteitag in Berlin aus: | |
„Wir wollen mitwirken am Aufbau des Sozialismus des 21. Jahrhunderts.“ | |
Die Rede von Lothar Bisky, dem anderen Gründungsvorsitzenden, fiel weniger | |
pathetisch aus. „Ach, hätten wir Linken doch in der kategorialen Wüste der | |
Besserwisserei ein Stück jener sinnlichen Vorstellungskraft schon | |
zurückerobert, die für andere Menschen nachvollziehbar den Lebensgenuss vor | |
den Besserwisserfrust stellt“, sagte Bisky nachdenklich. Und er mahnte: | |
„Eines brauchen wir in der neuen Partei bestimmt nicht: Unterstellungen und | |
Denunziationen.“ | |
Der weitsichtige Bisky und der wortgewaltige Lafontaine, der auch der | |
Bundestagsfraktion vorstand, prägten zusammen mit Co-Fraktionschef Gregor | |
Gysi die Anfangszeit. Dabei übertünchten Aufbruchstimmung und Wahlerfolge | |
der ersten Jahre viele ungelöste Konflikte, die im Gründungsprozess | |
ausgeblendet worden waren. 2010 traten Bisky und Lafontaine von der | |
Parteispitze ab. Das einigende Zentrum zerfiel, die Partei begann | |
auseinanderzudriften. | |
Fünf Jahre nach der Gründung konstatierte Gysi 2012 auf dem Parteitag in | |
Göttingen: „Unser größtes Ziel ist es, eine solidarische Gesellschaft zu | |
erreichen, und wir selber führen vor, nicht einmal untereinander | |
solidarisch sein zu können.“ Möglicherweise sei es „besser, sich fair zu | |
trennen, als weiterhin unfair, mit Hass, mit Tricksereien, mit üblem | |
Nachtreten und Denunziation eine in jeder Hinsicht verkorkste Ehe zu | |
führen“. Damals hielt Lafontaine noch dagegen: „Wir haben kein Recht, diese | |
linke Partei zu verspielen!“ | |
[20][Lothar Bisky] und [21][Oskar Lafontaine] sind heute nicht mehr dabei: | |
Der eine starb viel zu früh 2013, der andere ist im März dieses Jahres | |
ausgetreten. Verblieben ist nur Gregor Gysi. Aussichtslos erscheinende | |
Situationen würden ihn reizen, so der 74-Jährige. Er merke, „wie in mir | |
langsam wieder eine Leidenschaft entsteht, weil ich das nicht wahrhaben | |
will“, sagte Gysi der taz. | |
***** | |
## Der Gründungskonsens | |
Viel wird in diesen Tagen der Gründungskonsens der Linkspartei beschworen. | |
Selbst Sahra Wagenknecht – die nach eigenen Angaben aufgrund eines | |
Coronaverdachts dem Parteitag fernbleiben wird – fordert eine | |
„Rückbesinnung“ auf selbigen – worunter sie die Selbstbeschränkung auf … | |
Eintreten „für mehr soziale Gerechtigkeit und für Frieden“ versteht. Aber | |
ist das tatsächlich der Gründungskonsens? | |
Auf zwei parallel stattfindenden Parteitagen verständigten sich im März | |
2007 die PDS und die WASG auf [22][„Programmatische Eckpunkte“], die die | |
Grundlage für ihre Vereinigung im Juni 2007 bildeten. Darin heißt es: | |
„Gemeinsam wollen wir eine Partei, wie es sie in Deutschland noch nicht gab | |
– Linke einigend, demokratisch und sozial, ökologisch, feministisch und | |
antipatriarchal, offen und plural, streitbar und tolerant, antirassistisch | |
und antifaschistisch, eine konsequente Friedenspolitik verfolgend.“ | |
Das sollte die Linke sein, das war ihr Gründungskonsens. Er blieb ein | |
hehrer Anspruch. | |
24 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm | |
[2] /Landtagswahl-in-Nordrhein-Westfalen/!5854178 | |
[3] /Studie-zur-Linkspartei/!5853570 | |
[4] /Zukunft-der-Linkspartei/!584659 | |
[5] /Brandbrief-von-Linken-Landesvorsitzenden/!5854257 | |
[6] https://www.die-linke.de/partei/programm/ | |
[7] https://www.spd-trier-mitte.de/dl/Das_Erfurter_Programm.pdf | |
[8] https://www.die-linke.de/fileadmin/download/parteitage/erfurter_parteitag_2… | |
[9] https://www.die-linke.de/fileadmin/download/parteitage/erfurter_parteitag_2… | |
[10] https://www.die-linke.de/fileadmin/download/parteitage/erfurter_parteitag_… | |
[11] /MeToo-bei-der-Linkspartei/!5846760 | |
[12] /Hennig-Wellsow-gibt-Linken-Spitze-ab/!5849789 | |
[13] /Neuwahl-der-Linken-Parteispitze/!5853463 | |
[14] /Kandidatur-fuer-Linkenvorsitz/!5857213 | |
[15] /Vor-dem-Parteitag-der-Linken/!5861620 | |
[16] /Neuwahl-der-Linken-Parteispitze/!5853705 | |
[17] /Janine-Wissler-ueber-die-Krise-der-Linken/!5852240 | |
[18] /Vor-dem-Bundesparteitag/!5856844 | |
[19] /Janis-Ehling-ueber-die-Linkspartei/!5860024 | |
[20] /Nachruf-auf-Lothar-Bisky/!5061299 | |
[21] /Lafontaine-tritt-aus-Linkspartei-aus/!5838753 | |
[22] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/ADS/Programmatische_Eckp… | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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Janine Wissler | |
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