| # taz.de -- Scholz, Macron und Draghi in der Ukraine: Nach 112 Tagen in Kiew | |
| > Scholz reist mit Draghi, Macron und Johannis in die Ukraine. Dabei äußert | |
| > er den Wunsch, dass die Ukraine EU-Beitrittskandidat wird. | |
| Bild: Am runden Tisch: Die Staats- und Regierungschefs am Donnerstag in Kiew | |
| Berlin/Kiew taz | Deutschland handele stets im Geleitzug mit den | |
| Verbündeten, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz seinen Kritiker:innen | |
| entgegnet, [1][wenn es um seine Ukraine-Politik ging und um | |
| Waffenlieferungen (zu wenige) oder um Sanktionen (zu lasche).] Als sich der | |
| Kanzler am Mittwochabend, vier Monate nach Kriegsbeginn, in Richtung Kiew | |
| aufmachte, bewegte er sich tatsächlich im Geleitzug. Im Nachtzug nämlich | |
| und begleitet vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron und vom | |
| italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi ratterte Scholz dem lang | |
| erwarteten und eingeforderten Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten | |
| Wolodomir Selenski entgegen. In Kiew stieß am Donnerstagvormittag noch der | |
| rumänische Staatschef Klaus Johannis dazu. | |
| Obwohl sie zu viert waren, galt das Hauptaugenmerk der Ukrainer:innen | |
| dem Besuch des Deutschen. Sein Besuch war lange erwartet und wegen | |
| diplomatischer Spannungen immer wieder verschoben worden. | |
| Empfangen wurden die Politiker in der ukrainischen Hauptstadt Kiew | |
| zunächst mit Sirenengeheul. Der Luftalarm dauerte 30 Minuten. In | |
| ukrainischen sozialen Netzwerken machte bissiger Spott die Runde: „Damit | |
| sie die Atmosphäre verstehen, in der wir leben.“ „Vielleicht helfen sie uns | |
| dann schneller“ oder „So schickt ihnen Wladimir Putin Grüße aus dem Kreml. | |
| Wahrscheinlich ist er beleidigt, dass Macron ihn heute nicht angerufen | |
| hat.“ | |
| Die Erwartungen an den Westen sind in der Ukraine riesig: | |
| Waffenlieferungen, schneller Beitritt zu EU und Nato. Doch die Skepsis ist | |
| auch groß. Macron wirft man seine Telefonate mit dem russischen Präsidenten | |
| Wladimir Putin vor. Die ukrainische Seite fürchtet, der Franzose könne, | |
| getrieben von dem Wunsch „Putins Gesicht zu wahren“, territoriale | |
| Zugeständnisse von Kiew verlangen. Scholz werfen viele Ukrainer:innen | |
| eine vage Haltung zur Lieferung schwerer Waffen und Wirtschaftsbeziehungen | |
| zu Russland vor. Draghi kreiden sie an, den Krieg beenden zu wollen, was in | |
| der Ukraine als Kapitulation gewertet wird. | |
| ## Scholz will EU-Kandidatenstatus für die Ukraine | |
| Der Besuch in Kiew sollte auch dazu dienen, den Ukrainer:innen erneut zu | |
| vermitteln, dass man an ihrer Seite sei. „Es ist wichtig, wenn jetzt die | |
| Regierungschefs der drei großen Länder, die schon bei der Gründung der | |
| Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft dabei waren, nach Kiew fahren und in | |
| dieser ganz besonderen Situation des Krieges Unterstützung für die Ukraine | |
| und die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine zeigen“, sagte Bundeskanzler | |
| Scholz der Nachrichtenagentur dpa im Nachtzug. | |
| Die drei Staatschefs der historischen Kernunion und Johannis als Vertreter | |
| der osteuropäischen Jungmitglieder machten gegen Mittag dem ukrainischen | |
| Präsidenten Wolodmir Selenski ihre Aufwartung. Zusammen saß man im Kiewer | |
| Präsidentenpalast um einen runden Tisch – symbolträchtigere Fotos konnte es | |
| eine Woche vor dem EU-Gipfel nicht geben. Am 23. und 24. Juni treffen sich | |
| die Regierungschef:innen der 27 EU-Mitglieder und wollen unter anderem | |
| entscheiden, ob die Ukraine den Kandidatenstatus erhält. Die Kommission | |
| will am Freitag eine Empfehlung abgeben. Kommissionschefin Ursula von der | |
| Leyen war bereits am vergangenen Wochenende in Sachen Beitritt in Kiew | |
| gewesen. | |
| Scholz machte sich am Donnerstag dafür stark, der Ukraine und ihrer kleinen | |
| Nachbarrepublik Moldau den Status von EU-Beitrittskandidaten zuzusprechen. | |
| „Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine. Das | |
| gilt auch für die Republik Moldau“, sagte er in einer Pressekonferenz zum | |
| Abschluss des Besuchs. „Die Ukraine gehört zur europäischen Familie.“ | |
| Am Vormittag bekamen Scholz, Macron und Draghi im Kiewer Vorort Irpin eine | |
| Führung durch die von Ruinen gekennzeichneten Teile des Viertels. „Das sagt | |
| sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der | |
| einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist“, sagte Scholz danach in einem | |
| Statement. Die Zerstörungen in Irpin seien ein „ganz wichtiges Mahnmal“ | |
| dafür, dass etwas zu tun sei. Scholz bekräftigte, dass die Hilfe für die | |
| Ukraine weitergehen werde. Man wolle nicht nur Solidarität demonstrieren, | |
| „sondern auch versichern, dass die Hilfe, die wir organisieren, finanziell, | |
| humanitär, aber auch wenn es um Waffen geht, fortgesetzt werden wird“, so | |
| Scholz. Neue militärische Mitbringsel, wie sie etwa der ukrainische | |
| Botschafter Andrij Melnyk zuvor gefordert hatte, hatte Scholz allerdings | |
| nicht dabei. | |
| ## Angst vor Druck auf die Ukraine | |
| Deutschland hat bislang Waffen- und Munitionslieferungen im Wert von 350 | |
| Millionen Euro genehmigt, überweist der Ukraine zudem 1 Milliarde Euro für | |
| Waffenkäufe auf dem freien Markt und hat seit Beginn des Krieges 440 | |
| Millionen Euro für humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt. Nach Meinung | |
| vieler Ukrainer:innen reicht das aber nicht aus. | |
| „Sagen Sie bitte Scholz, dass er uns bald Waffen liefern soll. Es reicht | |
| langsam mit diesen Verzögerungen“, ereifert sich der 47-jährige Kiewer | |
| Bohdan, als die taz ihn in Kiew fragt, was er von dem Kanzlerbesuch | |
| erwarte. Der Mann meint, dass die deutsche Regierung in Bezug auf Russland | |
| schon längst entschlossener hätte auftreten sollen. | |
| Das denkt auch Swetlana, die erst vor Kurzem aus ihrem Evakuierungsort nach | |
| Kiew zurückgekommen ist. Die Frau meint, sie habe immer gedacht, | |
| Deutschland habe eine führende Rolle in Europa, aber jetzt in der Krise | |
| habe sich gezeigt, dass dem gar nicht so sei. „Drei von Deutschland | |
| zugesagte Mehrfach-Raketenwerfer – das ist lächerlich und wirkt fast wie | |
| Hohn. Die Deutschen müssen endlich verstehen, dass Putin nur die Sprache | |
| der Stärke versteht. Man kann mit ihm nicht verhandeln. Ich hoffe, dass | |
| Macron, Scholz und Draghi nicht nur nach Kiew gekommen sind, um Selenski zu | |
| einem neuen Minsker Abkommen zu überreden“, erklärt Swetlana. | |
| Das Minsker Abkommen zwischen der Ukraine und Russland, maßgeblich | |
| mitvermittelt von Deutschland, sollte einst den Krieg in der Ostukraine | |
| beenden. Mit dem 24. Februar ist es Geschichte. Gegenwärtig sitzt | |
| Deutschland weder als Vermittler mit am Tisch, noch verhandelt man gar im | |
| Namen der Ukrainer. Aus Regierungskreisen heißt es stets, dass dies ganz | |
| allein Sache der Ukrainer:innen sei und man sich davor hüte, ihnen ein | |
| Verhandlungsergebnis vorzuschreiben. (mit dpa) | |
| 16 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Scholz-telefoniert-mit-Selenski/!5852147 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
| Anastasia Magasowa | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
| Wolodymyr Selenskyj | |
| Russland | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Wladimir Putin | |
| Olaf Scholz | |
| Mario Draghi | |
| Klaus Johannis | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Gazprom | |
| Nato | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ukraine als Beitrittskandidat empfohlen: Vom Krieg in die EU? | |
| Deutschland, Frankreich, Italien und Rumänien wollen, dass die Ukraine | |
| EU-Beitrittskandidat wird. Doch wie soll das Land die Auflagen dafür | |
| erfüllen? | |
| +++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Grünes Licht für Kandidatenstatus | |
| Die EU-Kommission empfiehlt, die Ukraine und Moldau als Kandidaten für den | |
| EU-Beitritt zu ernennen. Boris Johnson ist erneut nach Kiew gereist. | |
| Gedrosselte Lieferung aus Russland: Mehr Gas aus den Niederlanden | |
| Der russische Konzern Gazprom drosselt die Lieferung. Um gut durch den | |
| Winter zu kommen, muss Deutschland seine Speicher nun anders auffüllen. | |
| Krieg in der Ukraine: Nato berät über Waffen für Kiew | |
| Die Ukraine bittet um mehr Militärhilfe. Sie befürchtet, dass westliche | |
| Länder sie zu Gebietsabtritten drängen könnten. |