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# taz.de -- Natur-Oper „Wölfe“: Mit den Wölfen singen
> In Schwerin feiert Helena Tulves erste große Oper ihre Uraufführung: Die
> estnische Komponistin spielt darin reale Konflikte durch.
Bild: Der Wolf polarisiert, wird zum Politikum – und umgekehrt
Schwerin taz | Der schotterschäbige Parkplatz vorm schmucken
Neorenaissance-Portal des [1][Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin]
war bis zum Durchstarten des Coronavirus der Event-Ort für die
Open-Air-Oper der Schlossfestspiele. Nach jahrelang defizitärem Betrieb
strich der neue Intendant Hans-Georg Wegner diesen Programmpunkt.
Jetzt bezaubert das Areal zur Eröffnung des sommerlichen
Veranstaltungsreigens mit einem Schäferidyll. Riesengroß in Form des
Theaterlogos „M“ ist der Platz begrünt, umzäunt und mit lässig vor sich …
mähenden Schafen bevölkert. „Wir sind kein Wolfsfutter“ steht am Gehege.
Dazu ist ein besonders süßes Schäfchen abgebildet. Ja, wer kann das schon
wollen, dass freilebende Wölfe solche Tierniedlichkeiten zum
Mitternachtsdinner verspeisen? Wenn so auf dem Signet der Bühne gegen den
Wolf polemisiert wird, liegt die Vermutung nahe, das sei die Aussage der
dazu im Haus gezeigten Uraufführung von [2][Helena Tulves erster großer
Oper] „Wölfe“. Also nichts wie hinein, um das zu überprüfen.
Das Publikum nimmt die Schäfchenposition ein und Platz auf einer
Kunstrasen-Weide, mit der das Parkett überbaut ist. Naturgeräusche
empfangen säuselnd das Sänger:innenensemble. In Wort- und Bildprojektionen
wird ein paradiesischer Urzustand Mecklenburgs beschworen: so viel Platz
für vieles sei vorhanden.
Das sehen die Wölfe draußen im Land genauso: Zurückhaltend parzelliert und
spärlich besiedelt ist es ideal zum Gründen neuer Reviere. Ausgerottet war
das Raubtier bis Ende des 19. Jahrhunderts, aber schon nach dem 2.
Weltkrieg kamen erste Exemplare wieder über die polnische Grenze, wurden
aber zumeist abgeschossen. Seit 1990 gilt der wilde Grauhund ganzjährig in
Deutschland als geschützt. Wolfskiller Nummer eins sind seither Autofahrer.
In Mecklenburg-Vorpommern leben derzeit 16 Wolfsrudel – eine fünf- bis
zehnköpfige Familie – sowie zwei Paare und drei Einzeltiere. Die Population
entwickele sich stabil, heißt es. Das bedeutet auch: 2021 waren knapp 60
Wolfsrisse mit etwa 230 getöteten und verletzten Nutztieren zu verzeichnen.
Viehzüchter fürchten daher um ihre Tiere, Jäger einen Konkurrenten, viele
Menschen grundsätzlich den fies-fabulösen Isegrim und das bös-listige
Märchenungeheuer, andere huldigen ihm als anmutig edlem Wesen.
## Projektionsfläche Wolf
Im Theater soll die Projektionsfläche Wolf nun als Problemfeld beackert und
kunstvoll bestellt werden. Dafür hat Regisseurin Nina Gühlstorff mit
Wolfsschützern, Naturwissenschaftlern, Waidmännern, Förstern, Abgeordneten
sowie Schäfern gesprochen und aus dem Best-of der O-Töne ein Libretto
gepuzzelt, garniert mit erquicklichem Fauchen, Zischeln sowie reichlich
„Grrrrrrr“ und „Ahuuu“.
Der beanzugte Tenor Marius Pallesen bekommt den „Politiker“-Text und empört
sich, dass Stadtbewohner die Vorstellung von der wieder wölfischen Natur
Mecklenburgs lieben, ohne je solch eine graue Eminenz außerhalb des Zoos
gesehen zu haben. Die Landbewohner beschweren sich, diese ahnungslose
Begeisterung ausbaden zu müssen. Die Polarisierung führt zur Politisierung
des Wolfs – oder umgekehrt.
Die „Aktivistin“, Sopran Morgane Heyse, verehrt ihn und möchte gar von ihm
gefressen werden, nach dem Tod: „Wölfe lecken einander das Gesicht. Sie
küssen. Sie sind wie wir.“ Was alle Darsteller vorführen. Zusammen mit dem
Chor spielen sie auch Wolf-, Schaf-, Menschenrudel und wissen, was die
„Schäferin“ braucht: Herdenschutzhunde und höhere Elektroschutzzäune.
Sie beklagt die hohen Kosten dafür und verbündet sich mit dem „Jäger“ in
der These: „Die Natur schütze ich nicht, indem ich sie sich selbst
überlasse.“ Gefordert wird eine Quote für die Population der Großraubsäug…
und ihre Überführung aus dem Tierschutz- ins Jagdrecht. Der leicht
misanthropische Naturfreund „Lonely Wolf“ entgegnet: „Wir haben viel zu
viel Wild im Wald. Es frisst die jungen Bäume. Wir brauchen den Wolf“ als
„Schäfer des Waldes“. Das Hin und Her der gesungenen Worte mündet im
Aufstand zorniger Bürger. „Aber wie die Lämmer abgeschlachtet werden zu
Ostern, das interessiert kein Schwein“, ist auch zu hören.
Intoniert wird all das in einem lyrischen, gespielt in einem expressiven
Duktus mit direktem Kontakt zum Publikum. In der Begegnung auf Augen- und
Ohrenhöhe kommt einem der Gesang mit geradezu physischer Intensität nahe.
Aber die Musik erzählt in morphenden oder kontrastierenden Klangschichten
wenig, was jenseits der Worte in den Figuren vorgeht.
Illustriert wird die mal friedlich wolfsfreie, mal wölfisch erregte
Atmosphäre, vor allem aber das tumultöse Gegeneinander der Wolfsfreunde und
-feinde. Was erstaunt, ist die estnische Komponistin doch bisher eher durch
eine mal fragil schwebende, mal unscheinbar fließende Klangfantasie in
langen musikalischen Bögen mit verwehenden Obertönen und fraktaler
Melodieführung aufgefallen. Hinein bettete sie Texte von Mystikern und
tiefreligiösen Poeten. Jetzt ist ihre Kompositionskunst in der rauen
Realität und im Reich der Operneffekte angekommen.
Die Regie will als Problemlösung nicht das notwendige Wolfsmanagement
diskutieren, sondern das Thema vertiefen. Hierzu werden Besucher von der
Wiese auf die Bühne beordert – in eine Installation blutroter
Wolfsopfermahnmale, durchwuselt von einem plastikrot gewandeten
Rotkäppchen-Kinderchor. Der besingt die bürgerliche Panik, vom geraden
Lebensweg abzukommen, wo das Fremde lauere: das Wölfische.
Statt zum Mitklatschen wird das Publikum nun zum wölfischen Mitheulen
animiert. Passend dazu mutiert der Chor zu verwilderten Menschen und dem
Verwilderungssymboltier Werwolf.
Der Aufführung geht es also nicht um Bestärkung der Schäferposition vorm
Theater, sondern um Versöhnung von Natur und Mensch. Also der Akzeptanz des
unzähmbar Animalischen in unserer kontrolliert durchorganisierten Kultur.
## Esoterische Rituale
Gefeiert werden irgendwie esoterische Rituale, in denen das „Es“ getanzt
werde, wie es in einer Szenenanweisung heißt. Aspekte wie Umweltzerstörung
und Klimawandel klingen in der naturromantischen Wolfsumarmung an. Dann der
Appell: „Du, geliebter grauer Hund des Waldes. Goldener König des Waldes.
Bitte verschone unsere Lämmer und Zicklein, iss stattdessen Moos im Moor.“
Das ist natürlich lächerlich, denn der Wolf ist kein für den Heimgebrauch
kaputtgezüchteter Kuschelhund, sondern ein Fleischfresser. Ihn kann man
nicht zum Vegetarier umerziehen. Es ist zum Heulen – mit dem Wolf? Mit den
Wolfsgegnern? „Wer ist der Feind?“, lautet die finale Frage der
Inszenierung.
Aber so pointiert die Textfassung die gegensätzlichen Meinungen anfangs
zusammenfasst, verliert die Szenenfolge zunehmend an Stringenz, wenn
Märchenmotive, Unterbewusstes, Triebhaftes zu Musik und Spiel werden.
Schade um diese großenteils faszinierende Kreation eines neuen Genres: der
dokumentarischen Naturoper.
2 Jul 2022
## LINKS
[1] https://www.mecklenburgisches-staatstheater.de/start.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Helena_Tulve
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Oper
Theater
Schwerin
Wölfe
Oper
Wissenschaft
Grüne Niedersachsen
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