| # taz.de -- Fotografie in Ostdeutschland: Wie im Halbschlaf | |
| > Zwei Fotografie-Ausstellungen in Berlin zeigen den Blick auf Mode und | |
| > Alltag in Ostdeutschland, insbesondere den Sibylle Bergemanns. | |
| Bild: Sibylle Bergemann: Birgit, Berlin 1984 | |
| Die Kunst dessen, was einmal Ostblock hieß (und bald wieder so heißen | |
| könnte), war eine unbekannte Sphäre. Nachdem der russische Fotograf | |
| Vladimir Sichov 1980 seine 180.000 Alltagsfotos in zwei Koffern aus der | |
| Sowjetunion in den Westen geschmuggelt hatte, wurde er schnell zum | |
| meistveröffentlichten Fotografen der Welt. Als 1990 die Pariser Ausstellung | |
| in La Villette mit [1][Fotograf*innen und anderen Künstler*innen aus | |
| der ehemaligen DDR] auf „Das andere Deutschland außerhalb der Mauern“ | |
| zurückblickte, war das Erstaunen groß: Welch andere Auffassung von | |
| Fotografie, von Kunst, von der Welt. | |
| Zwei Ausstellungen in Berlin zeigen dieses Erstaunen erneut: über die | |
| Ostberliner Fotografin Sibylle Bergemann in der Berlinischen Galerie und | |
| über die Frankreich-Erfahrungen der Berliner Fotograf*innen-Gruppe | |
| „Ostkreuz“ im Institut Français. Schon lang vor dem Mauerfall waren die | |
| Mitglieder der Gruppe hin und wieder in Paris und hatten von dort Bilder | |
| mitgebracht – Erstaunen in die andere Richtung. | |
| Die 1941 geborene Sibylle Bergemann, die mit ihrem Mann, dem Fotografen | |
| Arno Fischer, zeitweise im Brandenburgischen eine Art Salon führte, in dem | |
| die gesamte Kulturboheme der DDR verkehrte, fotografierte etwa für die | |
| ostdeutsche Modezeitschrift Sibylle. Zeitschrift für Mode und Kultur. Viele | |
| der jetzt zum ersten Mal ausgestellten Aufnahmen hat Bergemann nur für sich | |
| gemacht. Ihre fotografische Welt zeigt ein großes Spektrum: von | |
| Alltagsfotografien über stilisierte Inszenierungen, Architekturansichten, | |
| Stadtfotografien von Ostberlin bis in die ganze Welt: Niederlande, Polen, | |
| das tatarische Kasan oder das von Ostberlin aus so nahe gelegene Moskau. | |
| Einem größeren Publikum wurde sie mit ihren Modefotografien von | |
| DDR-Designern bekannt. | |
| ## „Fenster sind auch Menschen“ | |
| Ihre erste eigene Ausstellung im Jahr 1968 zeigte aber nicht Fotografien | |
| von Menschen und Kleidern, sondern von Fenstern. „Da ich mich nicht getraut | |
| habe, Menschen zu fotografieren, habe ich Fenster fotografiert. Wenn man | |
| sich die anguckt, hat man eine Vorstellung von den Bewohnern dahinter: Sehe | |
| ich Rüschen? Fenster sind auch Menschen. Das war die Idee.“ | |
| Im Unterschied zu Sichovs Moskauer Anarchismus springen einen Bergemanns | |
| Fotografien selten direkt an. Wenn sie Menschen wie Fenster fotografiert, | |
| ist es schwer, in sie hineinzuschauen, ihr Blick hat etwas Abwesendes, wie | |
| im Halbschlaf, der Mund emotionslos, an florentinische Renaissanceportraits | |
| erinnernd. | |
| Oft stehen die Frauen vor einem Stück DDR-Architektur – vor Schloten, | |
| Plattenbauten, von Ruß und Geschichte zerfressenen Mauern. Bis in die Mitte | |
| der 1990er Jahre fotografiert sie ausschließlich in Schwarz-Weiß. Eine | |
| Fotografie von 1984 haben die Ausstellungsmacher*innen aus guten | |
| Gründen zum Cover erhoben: eine Frau in einem dunklen Übergangsmantel aus | |
| wasserabweisenden Twill über einem gestrickten Cardigan mit hohem Kragen | |
| steht am Rand einer Stadtautobahn, über die ein Trabant, ein Wartburg und | |
| ein Lada verkehren, hinter ihr Laternenpfähle und die schwarze Rußfahne | |
| eines Fabrikschlots. Eine Allegorie der Kunst und Mode, selbst im | |
| aufgeräumten Realsozialismus: Schön steht sie am Straßenrand. | |
| ## Abwesender Blick und hohe Konzentration | |
| Der abwesende Blick aber ist nur die eine Seite von Bergemanns | |
| fotografischem Werk. Die andere ist: hohe Konzentration, ohne Glitzer, ohne | |
| Ablenkung. „Standhaftigkeit“ nennt das die Leiterin der fotografischen | |
| Sammlung und Kuratorin der Ausstellung Katia Reich. Die inszenierten | |
| Fotografien sind oft lange belichtet, wie in der Frühzeit der Fotografie. | |
| Das gibt den Bildern eine manchmal geradezu sakrale Ausstrahlung. | |
| Sie kommt auch von der konzentrierten Wahrnehmung des Unvorhergesehenen, | |
| wenn etwa Tiere auftreten, vor allem Hunde, aber auch Esel oder Ziege. | |
| Zusammengerollt schläft ein kleiner Hund unterm Baum eines quadratischen | |
| Rasenstücks in einer polnischen Stadt (1973); einer springt hoch in die | |
| Luft auf einer Dachterrasse in Paris – am Horizont ein Babylon von | |
| Plattenbauten (1979); ein anderer mogelt sich, Männchen machend, in das | |
| Modefoto einer blonden Frau am Strand in wehendem geblümten Hippie-Outfit, | |
| die Haare aufgestellt im Wind (1976). | |
| Die Farbe gelangt, wie aus dem Lehrbuch der Geschichte, erst nach dem | |
| Mauerfall Mitte der 1990er Jahre in Bergemanns Fotografie. Vor der alten, | |
| gemalten Kulisse eines fantastischen Raumschiffs in Potsdam besinnt sich | |
| eine Frau mit geschlossenen Augen, die offene Hand an der Stirn (1994). | |
| Ende der 1990er Jahre fährt Bergemann für Aufträge von Geo nach Jemen und | |
| in den Senegal und bringt von dort Fotografien in unglaublichen Farben mit. | |
| Ihren fotografischen Grundsätzen bleibt sie treu bis in die spätesten | |
| Aufnahmen (2001 und 2010) von der Architektur sandgelber Häuser, einer | |
| Ziege vor rosaroter Wand oder [2][der theatralischen Mode] der | |
| senegalesischen Designerin Oumou Sy, inszeniert nicht schwarz-weiß in | |
| Ostberlin, sondern in allen Farben Westafrikas. | |
| 2 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marina Razumovskaya | |
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