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# taz.de -- Wissenschaftsjournalismus unter Druck: Nette Erklärbären war einm…
> Die Pandemie hat auch in Medienhäusern Spuren hinterlassen. Besonders
> augenfällig: der Graben zwischen Wissensressort und Rest der Redaktion.
Bild: Meinung vor Wissen: Schlagzeile vom Kölner „Express“ am 3. Februar 2…
Wenn drei RedakteurInnen einer Zeitung auf einen Schlag kündigen, ist das
auffällig. Wenn nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie drei
WissenschaftsredakteurInnen mit Kernkompetenzen aus den Bereichen Biologie,
Biochemie und Medizin das Handtuch werfen, und zwar gleichzeitig und dann
auch noch beim Springer-Blatt Welt – dann ist das ein Thema. Der
Medieninsider, ein Magazin für Medienschaffende und Journalisten, [1][hat
es aufgegriffen und es zum Skandal stilisiert]. Die Berichterstattung der
Welt zur Pandemie soll demnach unerträglich geworden sein für die drei
JournalistInnen.
Dass WissenschaftsredakteurInnen im Konflikt mit der
Corona-Berichterstattung ihrer Häuser stehen, ist allerdings kein
Einzelfall und ganz sicher kein Sonderproblem der Welt. Auch in anderen
Häusern haben WissenschaftsjournalistInnen die Redaktionen verlassen, weil
der Evidenz, also der Faktenlage, gleichberechtigt Meinungen
gegenübergestellt wurden. Weil die Wirkung nachweislich wirksamer
Schulschließungen angezweifelt wurde, weil Pseudoexperten interviewt und
dadurch erst aufgebaut, weil Impfzweifel ernst genommen und dadurch
geschürt wurden.
Christian Drosten hat es zuletzt auf den Punkt gebracht, als er in einem
Podcast der FAZ von „künstlichen Kontroversen“ sprach. Der Forscher ist
selbst immer wieder in den Fokus solcher künstlichen Kontroversen geraten.
Die stilisierte Expertenkontroverse mit dem Bonner Aids-Forscher Hendrik
Streeck war nur eine erste – eine, die auch viele Qualitätsmedien
mitmachten. Ein Teil der Medien aber hat sich regelrecht an dem Berliner
Virologen abgearbeitet. Das ist nicht nur beschämend, sondern verdient eine
nähere Betrachtung – und zwar deshalb, weil der „Fall Drosten“ in einem
engen Zusammenhang zum Fall „Wissenschaftsjournalismus“ steht.
## Graben zwischen Evidenz und Meinung
Die Konflikte, die medial zwischen echten und vermeintlichen ExpertInnen,
zwischen Fakten und alternativen Fakten, zwischen einem großen Teil der
Gesellschaft und der Wissenschaft aufgebaut worden sind, finden ihre
Entsprechung im Verhältnis zwischen vielen Redaktionen und ihren
Wissen-Ressorts. Selten in so großer Offensichtlichkeit wie bei der Welt,
zu deren Marke es schon lange gehört, zu polarisieren, wo immer es möglich
erscheint. Aber ein Graben tat sich von wenigen Ausnahmen abgesehen in fast
allen Leitmedien auf. Es war der Graben zwischen Evidenz und Meinung.
Angefangen hat das früh, genau genommen in dem Moment, als das Virus auf
der Weltbühne erschien. Die meisten Wissen-Ressorts hatten bis dahin ein
relativ zurückgezogenes, fast inselhaftes Dasein geführt. Auf der Insel gab
es Astronomie, Gesundheitsratgeber, Ernährung, Naturreportagen und
Klimaforschung. Gelegentlich wurde „das Wissen“ zu politischen
Entscheidungen befragt: zum EuGH-Urteil zur Gentechnik von 2018, zum Streit
um Glyphosat oder zu den in China geborenen Crispr-Babys. Wissen-Ressorts
erklärten nach Fukushima, was an radioaktiver Belastung zu erwarten war und
wie sie sich auswirken würde. Sie erklärten, wie die Substanz wirkt, mit
der Alexei Nawalny vergiftet worden war und was der aktuelle IPCC-Report
aussagt. War alles erklärt, ging es zurück auf die Insel. Um die anhängige
Politik, Wirtschaft und Kultur kümmerten sich andere.
Corona hat dieses Verhältnis auf den Kopf gestellt. Erstens, weil es
zunächst einmal wenig zu erklären gab. Das Virus war unbekannt, neu, Daten
mussten erst gesammelt und ausgewertet werden. Weder Wissenschaft noch
Wissen konnten klare Antworten auf die vielen Fragen geben, die sich
stellten. Würden Masken helfen? Die wenigen verfügbaren Daten legten zuerst
nahe, dass dem nicht so sein würde. Waren Schulschließungen wirklich nötig
oder überhaupt wirksam? Die ersten Studien zeichneten ein uneinheitliches
Bild, so uneinheitlich wie die Situationen, in denen die Schulen in den
verschiedenen Ländern steckten. Breitete sich das Virus über die Luft aus?
Im Datenlimbo konnte man zunächst davon ausgehen, dass wie bei Sars-1 nicht
Aerosole, sondern Tröpfchen ansteckend sein würden. Man wusste es aber noch
nicht.
## Nie dagewesene Nachfrage nach Wissen
Der zweite Punkt war, das die Nachfrage an Wissen eine bis dahin nicht
dagewesene Dimension erreichte. Jede und jeder war (und ist noch immer)
betroffen. Zunächst durch das Virus, dann durch die Maßnahmen – und zwar
individuell sehr verschieden: Bewohnende von Altenheimen ganz anders,
nämlich im Leben bedroht, als Eltern, die praktisch kaum noch arbeiten
konnten, weil sie ihre Kinder zu Hause betreuen mussten. Kulturschaffende,
die nicht mehr auftreten konnten, ganz anders als Forschende, die plötzlich
mehr denn je zu tun hatten. Alle gemeinsam aber waren nun mit etwas
konfrontiert, was ihnen fremd war: mit dem, was Forschung eigentlich
ausmacht – dem Prozess, der Wissen in der Wissenschaft überhaupt erst
schaffen kann.
Datenerhebungen, Studien, Analysen und dazwischen viel Unsicherheit. Es
gibt gute und schlechte Studien. Eine Studie allein liefert selten
endgültige Erkenntnisse. Wissenschaft ist ein mühsamer, annähernder
Prozess, aus dem sich erst allmählich Gewissheiten formen. Das zu
vermitteln ist nicht gerade einfach. Es nützt vor allem nichts, wenn in den
Redaktionen wie in der Öffentlichkeit die Geduld fehlt, wenn Antworten und
Content verlangt werden – und der Unmut in der Bevölkerung auf Biegen und
Brechen gespiegelt werden muss.
Dass es aber keine Meinung ist, dass Kontaktbeschränkungen Sars-CoV-2
aufhalten, sondern eine Tatsache, fiel dabei genauso unter den Tisch wie
die Frage, ob man einem Pseudoexperten mit Laborverschwörungstheorien oder
einer Historikerin mit Leugnertendenzen tatsächlich eine Bühne bieten darf
im Journalismus. Die Kommunikations-Professorin Annette Leßmöllmann hat den
Wissenschaftsjournalismus Anfang 2021 in einem [2][Beitrag für das
Deutschlandradio] als systemrelevant bezeichnet. Er sei, Corona habe das
gezeigt, kein Nischenprodukt mehr. Forschung sei mit Macht im Alltag der
Menschen angekommen. Es mag zu jenem Zeitpunkt so ausgesehen haben.
## Die Erklärbären im Hintergrund
Aber jetzt, mehr als ein Jahr später, muss man fragen, ob der
Wissenschaftsjournalismus im Zuge der Coronapandemie nicht gerade Gefahr
läuft, in eine neue Nische gedrängt zu werden, in der auch Erklärungen nur
noch Meinungen sind – oder völlig an Bedeutung zu verlieren. Denn wenn
Meinungen genauso viel zählen wie die Faktenlage, wenn einzelne Studien
benutzt werden dürfen, um die Evidenz – die gesamte Erkenntnislage –
infrage zu stellen – wozu braucht man dann noch Journalistinnen und
Journalisten, die sich die Mühe machen, wissenschaftliche Literatur zu
wälzen, um zuverlässige Antworten anzubieten?
Es ist eine schwierige Situation, an der die Wissenschaftsjournalistinnen
und Wissenschaftsjournalisten selbst nicht ganz unschuldig sind. Über viele
Jahre waren sie die Erklärbären im Hintergrund und oft sogar ganz zufrieden
damit. Aber in einer Gesellschaft voller Technologie, Forschung und
Wissenschaft reicht das Erklärbärentum nicht aus. Es braucht faktenbasierte
Argumente und den Willen, die Kontroversen politisch und gesellschaftlich
orientiert zu führen, und zwar aktiv. Es geht um zu viel: Energiewende,
Klimawandel, Welternährung, die nächste Pandemie. Ohne Wissen ist all das
nicht zu bewältigen.
24 Jun 2022
## LINKS
[1] https://medieninsider.com/wissensluecke-bei-der-welt/11253/
[2] https://www.deutschlandradio.de/gastbeitrag-wissenschaftsjournalismus-und-d…
## AUTOREN
Kathrin Zinkant
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