| # taz.de -- Der türkische Ilisu-Staudamm: Wasser als Waffe | |
| > Ridvan Ayhan musste wegen Überflutung umziehen. Weiter unten ist es | |
| > umgekehrt: Dort leiden die Menschen, weil das Wasser des Tigris kaum mehr | |
| > fließt. | |
| Der erste Blick ist fantastisch. Azurblaues Wasser leuchtet dem Besucher | |
| entgegen, wenn man den Stausee erblickt. Man möchte am liebsten gleich in | |
| das kühle Nass hineinspringen. Doch Ridvan Ayhan dämpft die Begeisterung | |
| gleich. „Ich würde darin nicht baden“, sagt er, „der ganze ungefilterte | |
| Dreck von Diyarbakır, Bismil und Batman sammelt sich in diesem Stausee.“ | |
| Vor uns liegt eines der umstrittensten Großprojekte der Türkei. Der riesige | |
| künstliche See ist das Ergebnis des [1][Ilisu-Staudamm]s, der fast 150 | |
| Kilometer weiter südöstlich den Tigris aufgestaut hat. Jahrzehnte lang | |
| hatten ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung, unterstützt von | |
| Ökologen und Umweltaktivisten aus der ganzen Türkei und Europa, versucht, | |
| den Bau dieses Damms zu verhindern. „Die Zerstörung ist gigantisch und der | |
| vermeintliche Ertrag des Dammes dagegen sehr gering“, meint Ayhan. | |
| Bis vor ein paar Jahren hat Ridvan Ayhan noch in [2][Hasankeyf] gelebt, dem | |
| bekanntesten, rund 4.000 Einwohner zählenden Ort, der durch den Stausee | |
| überflutet wurde. Jahrelang hat er sich gegen den Damm engagiert – als | |
| Bewohner Hasankeyfs, als Umweltaktivist und nicht zuletzt als Kurde, weil | |
| die Verliererin bei diesem Großprojekt vor allem die kurdische Bevölkerung | |
| ist, deren Land und deren Dörfer nun unter Wasser liegen. | |
| Es sind noch knapp 20 Kilometer vom ersten Blick auf den Stausee bis nach | |
| Neu-Hasankeyf. An der Überlandstraße weisen große Schilder auf den Ort hin, | |
| die Abfahrt ist aufwendig gestaltet, man merkt, dass der türkische Staat | |
| hier Geld in die Hand genommen hat und etwas vorzeigen will. Die Einfahrt | |
| in den Ort führt vorbei an genormten, gleich aussehenden Einfamilienhäusern | |
| mit einem Stockwerk und einem kleinen Garten drumherum. | |
| An diesem Junitag liegt der Ort in gleißendem Sonnenlicht. In den Gärten | |
| ist nur spärliches Grün zu sehen, es gibt keinen einzigen Schatten | |
| spendenden Baum. Dabei war Hasankeyf einmal etwas ganz Besonderes. Der Ort | |
| lag an einer schmalen Stelle des Tigris, malerisch in die Felsen des | |
| anliegenden Berges gebaut. | |
| ## Kein einziger Schatten spendender Baum | |
| Neben der modernen Brücke ragten noch die gemauerten Pfeiler eines gut | |
| tausend Jahre älteren Vorgängerbaus aus dem Wasser. Ein persisch anmutendes | |
| Mausoleum eines früheren Herrschers dominierte das der Stadt | |
| gegenüberliegende Ufer. In den Steilklippen hoch über dem Tigris | |
| versteckten sich Hunderte Höhlen, die in früheren Zeiten bewohnt waren. Mit | |
| seinen alten Minaretten und den Torbögen aus der frühislamischen Epoche | |
| vermittelte Hasankeyf auch historisch unbedarften Besuchern den Eindruck, | |
| hier einen ganz besonders geschichtsträchtigen Boden zu betreten. | |
| Tatsächlich ist Hasankeyf noch wesentlich älter, als anhand der Bauten zu | |
| vermuten ist. Durch archäologische Funde in den Höhlen über dem früheren | |
| Ort lässt sich nachweisen, dass hier bereits im Neolithikum, also zum Ende | |
| der letzten Eiszeit, rund 10.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, Menschen | |
| gelebt haben. Unter Archäologen galt Hasankeyf deshalb als eine Art | |
| bewohntes Freilichtmuseum, gegen dessen Flutung Experten weltweit | |
| protestierten. | |
| Der türkische Staat hat auf diese Kritik reagiert und sich mit sehr großem | |
| Aufwand darum bemüht, zumindest einige historische Artefakte zu retten. Mit | |
| holländischer Spezialtechnik wurde das Mausoleum komplett angehoben und mit | |
| einem riesigen Tieflader einige Kilometer weiter an den Rand von | |
| Neu-Hasankeyf versetzt. | |
| Auch die beiden historischen Minarette und ein alter Hamam wurden abgebaut | |
| und in Neu-Hasankeyf Stein für Stein wieder aufgestellt. Sie sind nun die | |
| wichtigsten Exponate für einen noch im Bau befindlichen Archäologiepark, | |
| der Neu-Hasankeyf einmal zu einer Touristenattraktion machen soll. | |
| Ein erstaunlich gut eingerichtetes Museum ist bereits vor wenigen Wochen | |
| eröffnet worden, doch noch warten die Angestellten dort vergeblich auf den | |
| versprochenen Touristenansturm. Die wenigen Besucher in Neu-Hasankeyf | |
| verlieren sich im Staub der Baustellen, der den ganzen neuen Ort verhüllt. | |
| Obwohl Ridvan Ayhan versichert, dass alle neuen Häuser von ehemaligen | |
| Einwohnern des alten Hasankeyfs bewohnt sind, sieht man keine Menschen auf | |
| der Straße. „Jeder bleibt in seinem Haus, es gibt kein gemeinschaftliches | |
| Leben mehr hier. Die Leute sind durch die Zwangsumsiedlung traumatisiert“, | |
| meint Ayhan. | |
| Lediglich am Rande des neuen Hafens von Hasankeyf, von dem aus demnächst | |
| die Tourenboote mit den sehnlichst erwarteten Touristen starten sollen, ist | |
| ein wenig Leben zu verspüren. Hier haben sich drei Teegärten angesiedelt, | |
| hinter denen einige Läden ihre Eröffnung vorbereiten. Aus dem Ensemble soll | |
| später einmal so etwas wie ein Basar erwachsen. Das Ganze wirkt so | |
| künstlich wie es ja tatsächlich auch ist. „Disneyland in Kurdistan“, meint | |
| der Kellner im Teehaus achselzuckend. | |
| ## 80 Dörfer und Weiler gibt es nicht mehr | |
| Das alte Hasankeyf versank im Februar 2020 in den Fluten, nachdem im | |
| vorherigen Sommer damit begonnen wurde, den Stausee aufzufüllen. Heute ist | |
| er schon zu 90 Prozent gefüllt. Das Gewässer erstreckt sich über knapp 150 | |
| Kilometer Länge und bedeckt 300 Quadratkilometer Land. Dafür mussten neben | |
| Hasankeyf weitere achtzig Dörfer und Weiler umgesiedelt werden. Nach | |
| Auskunft von Staudammgegnern seien dadurch knapp 80.000 Menschen vertrieben | |
| worden. | |
| Während die ehemaligen Bewohner von Hasankeyf aufgrund der großen, auch | |
| internationalen Aufmerksamkeit noch vergleichsweise gut weggekommen sind – | |
| sie alle erhielten einen Eigentumstitel für ihr Haus und bekamen in | |
| Neu-Hasankeyf zu einem akzeptablen Aufpreis ein neues Gebäude gestellt –, | |
| ging der größte Teil der Dorfbewohner jenseits dieses Hotspots weitgehend | |
| leer aus. Ihre Häuser waren in keinem Grundbuch verzeichnet und das Land, | |
| das die Menschen über Generationen bearbeitet hatten, gehörte in der Regel | |
| einem Großgrundbesitzer, der sich mit dem Staat einigte, ohne dass die | |
| einheimischen Bauern etwas davon abbekamen. | |
| „Diese Familien leben jetzt in den Armenvierteln von Städten wie Batman und | |
| Diyarbakır oder sind gleich nach Westen ausgewandert, an den Rand von | |
| Istanbul und Ankara“, sagt Ridvan Ayhan. Ein junger Mann im Teehaus | |
| bestätigt, dass seine Familie in die kurdisch geprägte Millionenstadt | |
| Diyarbakır gezogen ist, während er selbst noch versucht, sich in | |
| Neu-Hasankeyf durchzuschlagen. | |
| Die sozialen Folgen sind nicht das einzige Problem, das durch den Staudamm | |
| verursacht wurde. Schon vor Jahren hatte [3][Ulrich Eichelmann], | |
| Koordinator der internationalen Kampagne „Stop Ilisu“, vor den ökologischen | |
| Folgeschäden der Staustufe gewarnt. „Natürliche Flussläufe sind die | |
| Lebensadern jeden Landes“, schrieb er damals. „Wer sie stoppt, eindeicht, | |
| aufstaut oder in unterirdische Röhren zwängt, zerstört damit die | |
| Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen.“ | |
| Dass diese Prophezeiung Wirklichkeit geworden ist, müssen vor allem die | |
| Menschen am Unterlauf des Tigris im Irak erleben. Der Ilisu-Damm liegt nur | |
| 40 Kilometer von der Grenze zu dem Nachbarland der Türkei entfernt. Seit | |
| das Wasser aufgestaut wird, hat sich die im Irak ankommende Wassermenge | |
| drastisch verringert. Selbst jetzt, wo der Staudamm nahezu gefüllt ist, | |
| lässt die türkische Regierung nur zwei von sechs Turbinen, durch die der | |
| Strom am Ilisu-Damm erzeugt wird, laufen, die anderen bleiben trocken. | |
| ## Wassermangel im benachbarten Irak | |
| Entsprechend gering ist die Wassermenge, die den Damm passiert und wenig | |
| später den Irak erreicht. Da auch der Euphrat, die zweite Lebensader des | |
| Zweistromlands, sowohl in der Türkei wie auch in Syrien bereits vielfach | |
| aufgestaut wurde, sitzen die Menschen im Irak bald buchstäblich auf dem | |
| Trockenen. | |
| Dabei wird das Land ohnehin schon vom Klimarat der Vereinten Nationen als | |
| eines der durch die Erderhitzung am meisten gefährdeten Länder weltweit | |
| gelistet. Der Klimawandel ist dort längst bedrohliche Realität. Extreme | |
| Hitze und Dürren haben die letzten fünf Jahre geprägt. Allein von April bis | |
| Ende Mai haben in diesem Jahr zehn Sandstürme durch ihren aufgewirbelten | |
| Staub die verdorrten Felder geschädigt. „Umso dringender“, sagte der | |
| irakische Minister für Wasserressourcen, [4][Mahdi Rasheed], Anfang Juni | |
| der Nachrichtenagentur Associated Press, „bräuchten wir mehr Wasser über | |
| die Flüsse.“ | |
| Weil das Wasser im Tigris und Euphrat immer dürftiger fließt, hat die | |
| irakische Regierung in der Hauptstadt Bagdad nun in einer Art Notoperation | |
| entschieden, die Bewässerung landwirtschaftlich genutzter Flächen um 50 | |
| Prozent zu reduzieren. „Der Tigris“, sagt Mahdi Rasheed, „hat in diesem | |
| Jahr 60 Prozent weniger Wasser als im Durchschnitt der letzten zehn Jahre.“ | |
| Von den sechs Millionen Tonnen Weizen, die der Irak zur Versorgung seiner | |
| Bevölkerung braucht, konnten in diesem Jahr wegen des Wassermangels bisher | |
| nur 2,5 Millionen Tonnen erwirtschaftet werden. | |
| Seit die Türkei in den 1960er Jahren mit dem Bau von Staudämmen an den | |
| Oberläufen von Tigris und Euphrat begonnen hat, vertreten die Regierenden | |
| die Position, dass das Wasser auch ihrem Land gehört. „So wie der Irak | |
| seine Ölquellen als nationales Gut betrachtet, betrachten wir die Quellen | |
| von Euphrat und Tigris als nationales Gut“, so reagieren | |
| Regierungsvertreter seit Jahrzehnten auf die Kritik aus Syrien und dem | |
| Irak. Und so wie man für Öl bezahlen muss, erwartet die Türkei auch eine | |
| Gegenleistung für Wasser. | |
| Ridvan Ayhan und andere Kurden im Teehaus von Neu-Hasankeyf sind davon | |
| überzeugt, dass die Regierung in Ankara den Ilisu-Damm auch deshalb gebaut | |
| hat, um irakisches Wohlverhalten in wichtigen politischen und | |
| wirtschaftlichen Fragen notfalls erzwingen zu können. Seit April diesen | |
| Jahres führt die türkische Armee eine großangelegte Militäroperation gegen | |
| die im eigenen Land verbotene PKK im kurdischen Nordirak durch. | |
| Zähneknirschend hat sowohl die Regierung in Bagdad wie auch die kurdische | |
| Autonomiebehörde in Erbil ihre Zustimmung dazu gegeben. | |
| „Tun sie es nicht, dreht ihnen die Türkei ganz das Wasser ab“, ist Ayhan | |
| überzeugt. Denn allein der Strom, der durch den Damm erzeugt wird, könne | |
| als Grund für den milliardenschweren Bau nicht überzeugen, meint er. Statt | |
| der von der Regierung prognostizierten 3 Prozent, den der Staudamm für die | |
| Energieerzeugung der gesamten Türkei erbringen sollte, seien es bislang | |
| nicht mal die Hälfte davon, die durch die Turbinen erzeugt würden. „Das | |
| hätte man in dieser Gegend, wo zehn Monate im Jahr die Sonne vom Himmel | |
| knallt, mit Solarenergie weit billiger, umweltschonender und humaner | |
| erreichen können“, sagt Ayhan. „Die Dämme sind auch dazu da, Wasser als | |
| Waffe einsetzen zu können.“ | |
| Über eine teils nur noch als Sandpiste existierende Straße durch die Berge | |
| machen wir zum Abschluss noch einen Abstecher zum alten Hasankeyf oder zu | |
| dem, was an dem alten Platz der Ortschaft noch übrig geblieben ist. Der Weg | |
| endet auf einem staubigen Platz direkt am Ufer des Stausees. Wir befinden | |
| uns im oberen Drittel des Burgberges, an dessen Fuß einst Hasankeyf lag. | |
| Vom Ort ist nichts mehr zu sehen. | |
| Den verbliebenen Burgberg haben sich jetzt die Archäologen vorgenommen. Ein | |
| Team der türkischen Universität Van gräbt auf dem obersten Plateau gerade | |
| einen Palast aus, der zu Beginn des ersten Jahrtausends unserer Zeit | |
| vermutlich als Teil der römischen Grenzbefestigung zu den persischen | |
| Sassaniden gedient hat. Der Chef der Grabungskampagne, Murat Bey, meint: | |
| „Nachdem wir Hasankeyf versenkt haben, legen wir hier ein Kastell frei.“ | |
| Das sei ein Symbol für die wechselvolle Geschichte an Euphrat und Tigris. | |
| 28 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Folgen-des-Ilisu-Staudamms-am-Tigris/!5448033 | |
| [2] https://www.spiegel.de/ausland/hasankeyf-in-der-tuerkei-12-000-jahre-geschi… | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Eichelmann | |
| [4] https://apnews.com/article/dams-ankara-turkey-middle-east-iraq-9542368977c9… | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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