| # taz.de -- Der Star unter den Pilgerwegen: Der Jakobsweg als Ziel | |
| > Jakobswege gibt es überall in Europa. Der „Camino de Santiago“ in Spanien | |
| > bleibt jedoch die unterhaltsamste Pilgerstrecke. | |
| Bild: Ein Pilger auf dem Jakobsweg in Spanien bei Leon | |
| Translator | |
| Ein eiskalter Nordostwind presste uns noch die kleinste Träne aus den | |
| Augenwinkeln. Er fegte über die Meseta, die nord-spanische Hochebene | |
| zwischen Burgos und Leon. Er trieb uns praktisch vor sich her. Wir waren in | |
| Richtung Westen unterwegs, immer den gelben Pfeilen des Camino de Santiago | |
| nach, die uns zum alten Pilgerziel Santiago de Compostela und dann noch bis | |
| ans Ende dieser alten Welt, nach Finisterre an den Atlantik führen würden. | |
| Die Meseta ist berüchtigt für diesen Wind. Nirgends Wälder oder Hügel, die | |
| ihn bremsen könnten. Im Sommer, so wussten wir, herrscht hier | |
| Backofenhitze. Die wollten wir nicht. Also weiter, immer in Bewegung | |
| bleiben, denn wer hier stehen blieb, der fror. Vor uns lag noch fast der | |
| halbe Weg nach Santiago, der insgesamt rund 800 Kilometer ausmacht. Der | |
| Camino Frances beginnt auf der französischen Seite der Pyrenäen, in Saint | |
| Jean Pied de Port. Wer es geschafft hat, in Bewegung zu kommen und seinen | |
| Rhythmus zu finden, der geht fast automatisch. Auszusteigen ist mitunter | |
| schwieriger als immer weiter zu gehen, selbst unter Schmerzen. Gehen kann | |
| wie Meditation sein, die Bewegung macht ruhig. | |
| Damals, in den frühen Nullerjahren, waren wir Newcomer auf dem Camino. Dass | |
| wir auf etliche Wiederholer trafen, die diesen Weg schon zum zweiten oder | |
| dritten Mal gingen und manche sogar jedes Jahr hier unterwegs waren, | |
| überraschte uns. Alle, die von zu Hause in Deutschland oder Holland aus | |
| losgegangen waren und schon tausend Kilometer hinter sich hatten, | |
| bewunderten wir geradezu. | |
| Abends in den Bars, in denen wir zusammentrafen, war es warm. Und gesellig. | |
| Abends rückten alle zusammen. Menschen, die sich nie zuvor begegnet waren | |
| und tagsüber eher aus dem Weg gingen, lernten sich gut kennen. Nur wenige | |
| Herbergen waren in der kalten Jahreszeit beheizt. Gegen klamme Matrazen und | |
| frostige Nächte half Alkohol, und der machte noch kommunikativer. Manchmal | |
| kochten wir gemeinsam in den Küchen der Herbergen. Manchmal fanden sich | |
| Gehgemeinschaften. Und Pärchen. | |
| Und die vielen persönlicher Themen, die zum Gesprächsstoff wurden, machten | |
| deutlich, dass die Wanderung auf dem Camino für viele auch ein Psychotrip | |
| war. Ein Ineinanderfließen von Endorphinen und Gruppendynamik, das alles | |
| irgendwie leichter machte. | |
| ## Die Boomzeit des Jakobswegs | |
| Rückblickend erlebte der Camino nach Santiago in diesen Jahren einen Boom. | |
| Seine Beliebtheit wuchs enorm. Die Zahl der Urkunden (Compostelas), die im | |
| Pilgerbüro von Santiago de Compostela anhand der nachgewiesenen Stempel im | |
| Pilgerpass ausgestellt wurden (man muss mindestens 100 Kilometer Fußmarsch | |
| nachweisen), belief sich Mitte der Achtziger Jahre auf jährlich rund 2.000. | |
| Im Jahr 2019 war es die unglaubliche Zahl von 347.587 Compostelas. Für | |
| Pilger aus aller Welt. Allen voran Spanier und Italiener, gefolgt von | |
| Deutschen, dann US-Amerikanern und an 8. Stelle von Koreanern. | |
| Vor allem Frauen hatten aufgeholt. Eigentlich ist es ein Männerding, mit | |
| dem Rucksack – und womöglich noch allein – auf eine wochenlange Wandertour | |
| zu gehen, aber der spanische Camino wurde allmählich zu einer Art | |
| geschützten Weges. Zumindest gefühlt. 2018 überholten Frauen zahlenmäßig | |
| erstmals die Männer. | |
| [1][Dann kam Corona. Und auf dem Camino ging nichts mehr.] | |
| Aber war es das damit auch? War alles Geschichte? | |
| 23. März 2022: Ivar Rekve, Norweger in Santiago, Begründer und | |
| Verantwortlicher des größten englischsprachigen Pilgerforums, berichtet auf | |
| seinen regelmäßigen Youtube-Beiträgen erstmals von vielen Neuankömmlingen. | |
| Ostern 2022 dann steht Ivar Revke außerhalb der Stadt vor schöner | |
| Landschaftskulisse und blendet Aufnahmen aus der Stadt ein, die jetzt | |
| wieder voller Besucher ist. Er berichtet von über 2.000 vergebenen | |
| Compostelas pro Tag während der Osterzeit. Aus den Statistiken des | |
| Pilgerbüros geht hervor, dass die Zahlen vom ersten Vierteljahr 2022 denen | |
| von 2019 entsprechen. Erleichterung. | |
| ## Neuer Aufschwung nach Corona | |
| Viele Leute hatten sich Sorgen gemacht. Auch in den Social Media in ganz | |
| Europa. Nicht nur wegen ihres eigenen Seelenheils. Vor allem wegen der | |
| Infrastruktur. Wegen der Existenz von Herbergen, Bars, kleinen Unternehmen | |
| wie etwa Gepäcktransporten und Veranstaltern, den vielen privaten und | |
| häufig ehrenamtlichen Initiativen, die im Zusammenhang mit dem Camino | |
| entstanden sind und vielen Menschen ein Auskommen gesichert haben, kurz: | |
| die ökonomische Seite. | |
| Zwar ist der Camino de Santiago ein Pilgerweg, aber sein ökonomischer | |
| Erfolg war kalkuliert und verdankt sich nicht zuletzt der spanischen | |
| Tourismuspolitik, deren Ziel es seinerzeit war, jenseits des | |
| Strandtourismus die wirtschaftliche Entwicklung des Hinterlandes | |
| anzukurbeln. 1986 war Spanien der EU beigetreten, bereits 1987 kürte der | |
| Europarat in Straßburg die Wege der Jakobspilger zur [2][ersten | |
| Europäischen Kulturroute]. 1993 kam der werbeträchtige Unesco-Welterbetitel | |
| für den Camino Frances hinzu. | |
| Mit dem Camino wurde explizit eine kulturelle Identität Europas | |
| hervorgehoben. Das Schöne daran: Der Europarat beförderte eine sanfte, | |
| nachhaltige Form des Tourismus. | |
| Der Boom beschränkte sich nicht bloß auf die spanische Hauptroute. Der | |
| Camino del Norte, der von Irun aus an der Küste langgeht, ist zwar | |
| anstrengender, er ist aber sehr populär geworden, desgleichen die weit | |
| längere Via de la Plata, die von Sevilla ausgeht. Geradezu [3][ein | |
| Pilgerliebling] ist inzwischen der erheblich kürzere Caminho Portugues, der | |
| gern von Porto/Portugal aus begangen wird und nach Norden führt. Auch | |
| außerhalb der iberischen Halbinsel ging es mit der Wiederentdeckung der | |
| Pilgerwege voran, allen voran den drei französischen Hauptwegen, die alle | |
| auf den Camino Frances münden. Und auch neben diesen gibt es jetzt | |
| Ergänzungen und weitere Wege. | |
| ## Jakobswege in ganz Europa | |
| Das Netz der Jakobswege, das Europa überzieht, reicht aktuell, von Norden | |
| und Osten kommend, bis Norwegen, Litauen und in die Ukraine. In Deutschland | |
| gibt es rund 60 ausgewiesene Jakobswege. Und das heißt in der Regel: | |
| markiert, betreut (von Jakobusvereinen) und eingebettet in eine | |
| Infrastruktur aus – möglichst preiswerten und auch privaten – | |
| Übernachtungsmöglichkeiten. | |
| Dennoch gibt es Unterschiede: wer hier allein geht, der wird es auch | |
| bleiben. Nur vergleichweise wenige Menschen sind auf den eher abseitigen | |
| Wegen unterwegs. Zwar gibt es auch hierzulande organisierte Angebote und | |
| spirituelle Begleitung, aber das Caminofeeling gibt sich eher spanisch. Der | |
| Weg der Wege ist der Camino Frances. Hier wurde Tradition auf eine neue | |
| Weise begründet. | |
| Pilger nennen sich auf den Jakobswegen heute alle gern. Fraglich ist, ob | |
| sie auch religiös sind. Unterwegs in Spanien trafen wir auch auf | |
| Althippies, die auf dem Hippietrail nach Indien gereist waren, auf | |
| Alpinisten, die sich mal in Spanien umsehen wollten, auf Sportler, die den | |
| Camino als Trainingsstrecke verstanden, auf Wandergesellen in | |
| traditioneller Sponkluft samt Zylinder auf ihrer Walz, auf Esoteriker mit | |
| Paulo Coelhos Büchern im Gepäck und natürlich auf viele mutige und | |
| unauffällige, aber häufig untrainierte Backpacker, von denen nicht wenige | |
| bald wieder aufgaben. | |
| Pilger und Backpacker hätten hier ohnehin ähnliche Motive für ihren | |
| Aufbruch, so eine Studie von 2014 (von Tommi Mendel). Ob in Südostasien | |
| oder in Spanien: unterwegs sei man frei vom Druck der eigenen Gesellschaft. | |
| Häufig befinde man sich in einer Übergangssituation. Und so ergäbe es | |
| diesen munteren Austausch unter Menschen aus allen Kontinenten, die | |
| manchmal von dem einem zum anderen Pilgerweg am anderen Ende der Welt | |
| wechselten. | |
| Laut Selbstauskunft im Pilgerbüro von Santiago gibt ein gutes Drittel der | |
| Empfänger von Compostelas religiöse Motive an, bei den meisten sind es | |
| gemischte Motive, ein kleinerer Teil ist rein kulturell interessiert. | |
| Religiös ist vor allem die Vorgeschichte des Camino de Santiago, die auf | |
| einer Legende über Jakobus den Älteren beruht. Jakobus, einer der Jünger | |
| Jesu, soll nach seinem gewaltsamen Tod im damaligen Heiligen Land per | |
| Schiff nach Spanien gebracht und im heutigen Santiago de Compostela | |
| bestattet worden sein. Die späte „Wiederentdeckung“ seines Grabes (im 9. | |
| Jahrhundert) und der Aufstieg zu einem neben Jerusalem und Rom gleich | |
| bedeutsamen Pilgerziel des Christentums ist historisch wie politisch ein | |
| wichtiges mittelalterliches Thema. Es steht auch im Zusammenhang mit der | |
| Reconquista, der Rückeroberung eines einst von Muslimen eroberten Spaniens. | |
| ## Auf das Nötigste reduziert | |
| Darstellungen und Skulpturen von Jakobus als einem „Maurentöter“, der als | |
| Schlachtenhelfer gewirkt haben soll, haben in den letzten Jahren häufig | |
| Kontroversen als mögliche Beleidigungen muslimischer Mitbürger ausgelöst. | |
| Die Pilger von heute sind vor allem Touristen. Touristen wie wir. Wir waren | |
| damals froh, den Schreibtisch hinter uns zu lassen und ins Freie zu kommen. | |
| Endlich mal Ballast abzuwerfen. Wir genossen es, einfach gehen zu können, | |
| reduziert aufs Nötigste – was wirklich sehr wenig war. | |
| Nach der Meseta und den Städten Leon und Astorga erreichten wir die Berge | |
| und den Übergang nach Galicien. War die Meseta eher wie eine Wüste, so | |
| umfing uns anschließend eine wunderschöne Landschaft, bei der alle ins | |
| Schwärmen kamen. Fast über Nacht hatten sich Berghänge gefärbt und | |
| schimmerten im Violett und Gelb blühender Sträucher. Die Ausblicke von | |
| Pässen auf das ländliche Spanien waren phantastisch. Die Pilgerbewegung | |
| hatte etliche, seit Jahrzehnten aufgegebene und fast verfallene | |
| „Geisterdörfer“ neu belebt. Selbst auf nüchterne Zeitgenossen wirkten die | |
| kulturellen Zeugnisse einer tausendjährigen Infrastruktur aus Hospizen, | |
| Klöstern, Kathedralen wie ein Zauber. Ein Weg wie ein Film. Und auch immer | |
| wieder fanden sich freiwillige Helfer an der Strecke und freundliche | |
| Menschen. Und natürlich auch uns bis dahin unbekannte Spezialitäten der | |
| spanischen Küche. Dass in Melide Pulpos auf dem Speiseplan standen, war | |
| ohnehin klar. | |
| Auf den letzten hundert Kilometern lernten wir noch die eiligen Touristen | |
| kennen, etwa taufrische Einsteiger in blütenweißen T-Shirts. Viele | |
| humpelten schon nach wenigen Kilometern. Wir erlebten Radlerpulks auf | |
| Panoramawegen und viele Kurzurlauber, die Feiertage nutzten, um sich mit | |
| Minimalaufwand eine Compostela zu erwandern. | |
| Aber auch Pilger, die geschmäcklerisch ein schmales Zeitbudget mit den | |
| Highlights des Weges abglichen und geruhsame Strecken mieden. Vielen | |
| erschien die Weite der Meseta viel zu öde. Sie hatten den Bus genommen. | |
| Manche schwärmten noch von den Weinen des Rioja. Man strebte eilig nach | |
| Santiago, um den gebuchten Flieger zu erreichen. Pilgern als | |
| Erlebnistourismus. | |
| Wir ahnten nicht, wieviel Glück wir seinerzeit in Santiago de Compostela | |
| hatten, als wir die Kathedrale betraten. Eben noch Innigkeit und Gebet | |
| einer großen Gemeinde – und dann dieses unvergleichliche Spektakel: Männer | |
| in liturgischer Trachte, die sich mit allem Einsatz ihrer Körperkraft an | |
| Seile hängen und den legendären Botafumeiro, den 80 Kilo schweren | |
| Weihrauchkessel durch die Kathedrale schwingen lassen. Sie zogen ihn über | |
| 20 Meter hoch hinauf. Über unseren Köpfen waberte der Wohlgeruch, die | |
| Gemeinde wurde eingenebelt. Und wie aus dem Jenseits blickte die | |
| lebensgroße Figur des Apostels Jakobus aus ihrer vergoldeten Kammer. | |
| Etwas ungemein Vitales haftet diesem alten Brauch an. Er ist einzigartig | |
| auf der Welt. Und auch in Santiago nicht alltägliches Programm. Applaus | |
| brandete auf. Wir spendeten frenetisch Beifall. Der Weg hatte sein | |
| Versprechen erfüllt. Der Zauber war wahr geworden. | |
| Heutzutage gibt es neue Sorgen – die im Grunde wieder die alten wie vor der | |
| Pandemie sind: Der Camino de Santiago könnte an seinem Erfolg ersticken. Es | |
| ist voll und, wie viele meinen, zu laut geworden. Digital Natives der | |
| jüngeren Generation pflegen neue, eher selbstbezogene Formen der | |
| Kommunikation. Was vielen nicht gefällt. | |
| Digitalisiert wurde auch der Pilgerpass, in dem Pilger seit jeher ihre | |
| Stempel sammeln. Und auch der Zugang zum Pilgerbüro zwecks Erhalt der | |
| Compostela: am besten registriert man sich online und im Voraus. Auch | |
| Herbergen und Hotels schätzen jetzt Vorausbuchungen. Es gibt unzählige | |
| Pilger- und Reisebücher und Erweckungsliteratur glücklicher Pilger. Niemand | |
| kann sich mehr in der Landschaft verirren, wenn er/sie die richtige App auf | |
| dem Smartphone nutzt und per GPS den Wegverlauf kontrolliert. Ein Ende des | |
| Zaubers, wie es auf Pilgerforen diskutiert wird? | |
| Andererseits war es nie so leicht und unkompliziert wie heute, auf die | |
| Beine zu kommen und einfach nach Santiago de Compostela zu gehen, wenn man | |
| darauf Lust verspürt. | |
| 7 Jun 2022 | |
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| Christel Burghoff | |
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