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# taz.de -- Nordirland-Konflikt und Großbritannien: Der Grenzfall
> Nordirland ist faktisch regierungslos. Schuld ist auch das
> Nordirland-Protokoll, das Großbritannien mit der EU verhandelt hat.
> Fragen und Antworten.
Bild: Dezente Grenze: Straßenmarkierungen in Nordirland und Irland
Nordirland [1][hat Anfang Mai ein neues Regionalparlament gewählt]. Warum
gibt es bis heute trotzdem keine Regierung?
Im Belfaster Abkommen vom Karfreitag 1998, das der britischen Provinz
relativen Frieden beschert hat, ist festgelegt, dass die beiden stärksten
Parteien auf protestantisch-unionistischer und katholisch-republikanischer
Seite die Erste Ministerin und ihren gleichberechtigten Stellvertreter
ernennen müssen. Das sind derzeit die Democratic Unionist Party (DUP) und
Sinn Féin, der ehemalige politische Flügel der inzwischen aufgelösten
Irisch-Republikanischen Armee (IRA).
Tritt einer von beiden Minister*innen zurück, ist der oder die andere
automatisch ebenfalls ihren Job los. Die DUP hatte die Regierung bereits im
Februar lahmgelegt, als ihr Erster Minister aus Protest gegen das
Nordirland-Protokoll zurücktrat. Ohne die DUP gibt es keine nordirische
Regierung.
Was steht denn im Nordirland-Protokoll?
Das Protokoll ist Bestandteil [2][des Brexit-Vertrags] und wurde von der
britischen Regierung und der Europäischen Union ausgehandelt. Es regelt,
dass Nordirland, das als einziger Teil des Vereinigten Königreichs eine
Landgrenze mit der EU hat, faktisch Teil des EU-Binnenmarkts bleibt und
sich den EU-Zollregeln unterwerfen muss. Grund dafür ist die Furcht, dass
der gewaltsame Konflikt durch eine harte Grenze zwischen Nordirland und der
Republik Irland wiederaufleben würde.
So eine harte Grenze wurde durch das Protokoll zwar vermieden, stattdessen
gibt es nun aber eine Zollgrenze zwischen Nordirland und
[3][Großbritannien], damit britische Waren – vor allem gekühlte
Fleischprodukte – nicht unkontrolliert nach Nordirland und von dort in die
EU gelangen können. Diese Regelung hatte zunächst einen „Würstchenkrieg“
ausgelöst, weil britische „bangers“ nicht mehr auf nordirischen
Frühstückstellern landen durften. Zumindest der Wurstzwist ist jedoch
inzwischen beigelegt, sodass auch Nordiren wieder in den zweifelhaften
Genuss britischer Würstchen kommen.
Warum lehnen Nordirlands Unionisten die Regelung ab?
Den Unionisten reichen die Würstchen nicht. Sie sehen in dem Protokoll
wegen der Grenze in der Irischen See eine Spaltung des Vereinigten
Königreichs. Premierminister Boris Johnson hat mit der Zustimmung zum
Nordirland-Protokoll eine Regelung erlaubt, von der seine Vorgängerin
Theresa May sagte, kein britischer Premier könne jemals so etwas absegnen.
Die DUP hat das Gefühl, von der britischen Regierung hereingelegt worden zu
sein. Sie hatte in Nordirland als einzige Partei für den Brexit geworben –
in der Hoffnung, dass sie dafür mit besonders engen Beziehungen zum
Mutterland belohnt würde. Die Unionisten monieren nun, das Protokoll
verstoße gegen die Unionsgesetze von 1800, mit dem sich die britische
Regierung die Nachbarinsel einverleibt hatte. Deshalb werde man das
Regionalparlament blockieren, bis das verhasste Protokoll vom Tisch ist.
Warum ist die Sache mit dem nordirischen Regionalparlament überhaupt so
kompliziert?
Das Regionalparlament besteht aus 90 Mitgliedern, die nach dem
Verhältniswahlrecht gewählt werden. Es wurde durch das Karfreitagsabkommen
von 1998 geschaffen, das den dreißigjährigen Konflikt in Nordirland beenden
sollte. Die nordirische Regierung ist seitdem eine Zwangskoalition, der
alle Parteien angehören, die mindestens neun Sitze haben.
Es folgt damit dem Prinzip der Konkordanz, also der Absicht, möglichst
viele Interessengruppen in die Politik mit einzubeziehen. Alle Abgeordneten
müssen sich zudem als „Unionist“, „Nationalist“ oder „Anderer“
identifizieren. Die überkonfessionelle und liberale Alliance Party fällt
zum Beispiel unter „Andere“. Sie kann sich vor jeder Abstimmung für
unionistisch oder nationalistisch erklären – je nachdem, wo eine Mehrheit
benötigt wird.
Warum ist das Thema Nordirland-Protokoll jetzt wieder brisant?
Die britische Regierung will noch in diesem Monat eine Gesetzesvorlage ins
Unterhaus einbringen, die Teile des Nordirland-Protokolls aushebeln soll.
Das wäre nach Artikel 16 des Brexit-Vertrags möglich: Es erlaubt jeder
Seite, Teile des Vertrags aufzukündigen, wenn „schwere wirtschaftliche,
gesellschaftliche oder umweltpolitische Schwierigkeiten“ drohen.
Der Artikel gilt als letztes Mittel, wenn alle Verhandlungen gescheitert
sind. Ob das Vorhaben allerdings so glatt gehen wird, ist zweifelhaft. Das
Londoner Oberhaus könnte der Regierung einen Strich durch die Rechnung
machen. Falls die Lords das Gesetz ablehnen, kann es erst nach einem Jahr
erneut vorgelegt werden.
Wie reagiert Brüssel, wenn das Protokoll von der britischen Regierung
einseitig ausgesetzt wird?
Die EU sagt, eine Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls stehe nicht zur
Debatte. Man werde „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ auf die
britischen Maßnahmen reagieren. Die EU bietet jedoch als Kompromiss an, die
Kontrollen für Lebensmittel um 80 Prozent zu reduzieren und die Regeln für
Kühlwaren zu lockern. Im Gegenzug verlangte man zusätzliche Sicherheiten,
damit Waren aus Nordirland nicht in die Irische Republik gelangen können.
Die Johnson-Regierung lehnt den Kompromissvorschlag ab.
Die EU-Mitgliedstaaten scheinen sich darauf geeinigt zu haben, jede
britische Maßnahme mit einer entsprechenden Gegenmaßnahme zu kontern.
Sollte London das Protokoll außer Kraft setzen und damit gegen ein
internationales Abkommen verstoßen, droht sogar ein Handelskrieg.
Wie geht es weiter?
Wenn binnen sechs Monaten keine Einigung erzielt werden kann, müssten
theoretisch Neuwahlen angesetzt werden – was an der Konstellation im
nordirischen Parlament aber vermutlich nichts ändern würde. Wahrscheinlich
einigt man sich, wie so oft, in letzter Minute auf eine Formulierung, die
alle Seiten als Sieg für sich reklamieren können. Bis dahin kann allerdings
noch viel passieren.
Der Juli ist in Nordirland zum Beispiel der Höhepunkt der Marschsaison mit
zahlreichen Paraden, die von den radikalen Protestanten des Oranier-Ordens
organisiert werden – bis zu 3.000 dieser Paraden gibt es im Jahr. Es ist zu
befürchten, dass es dabei zu gewaltsamen Protesten gegen das Protokoll
kommt.
Und wie steht es um eine irische Wiedervereinigung?
Bei den Wahlen Anfang Mai wurde Sinn Féin stärkste Kraft – und betonte, die
Frage der Wiedervereinigung mit der Republik Irland wieder auf die
Tagesordnung setzen zu wollen. Laut des Belfaster Abkommens liegt ein
solches Referendum aber im Ermessen des britischen Nordirland-Ministers
Brandon Lewis. Glaubt er, dass eine Mehrheit für die Wiedervereinigung
stimmen würde, kann er einen Volksentscheid anberaumen.
So weit ist es aber noch nicht, die Unionisten haben nach wie vor eine
Mehrheit. Die ist zwar zersplittert, aber bei der Frage der Zugehörigkeit
zum Vereinigten Königreich ist man sich einig. Die Unionisten fürchten
vielmehr, dass durch das Nordirland-Protokoll eine gesamtirische
Wirtschaft entsteht, die ein erster Schritt in Richtung Wiedervereinigung
sei. Dabei sind viele Bereiche wie Tourismus, der Wasser- und Energiesektor
ohnehin bereits gesamtirisch organisiert.
Wichtig ist auch die Frage der Finanzierung, es ist unklar, ob sich die
Republik Irland eine Wiedervereinigung überhaupt leisten könnte. London
schickt derzeit jedes Jahr knapp 10 Milliarden Pfund nach Nordirland. Die
Dubliner Regierung müsste diesen Wegfall dann kompensieren, behaupten
Skeptiker.
Zumindest für den größten Haushaltsposten, die Renten, würde London jedoch
weiterhin aufkommen, da die irischen Rentner ins britische Rentensystem
einbezahlt haben. Bei aller Unwägbarkeit steht zumindest eines fest: Die
britische Regierung würde einer Wiedervereinigung keine Steine in den Weg
legen. Denn so hätte sie die Probleme mit der ungeliebten Provinz an Dublin
abgegeben.
5 Jun 2022
## LINKS
[1] /Sinn-Fein-siegt-in-Nordirland/!5850888
[2] /Schwerpunkt-Brexit/!t5313864
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fbritannien_(Insel)
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
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