| # taz.de -- Streit um Brexit-Vertrag: Vom Geniestreich zum Zankapfel | |
| > Großbritannien will das Nordirland-Protokoll aushebeln. Es entstand 2019 | |
| > bei einem britisch-irischen Spaziergang – und rettete damals den Brexit. | |
| Bild: Zerschießt er das Nordirlandprotokoll? Premier Johnson bei einem Waffenh… | |
| Berlin taz | Als das [1][Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrages] | |
| zwischen Großbritannien und der EU im Oktober 2019 entstand, wurde es | |
| allseits als Geniestreich begrüßt. Es löste erstmals die Quadratur des | |
| Kreises namens Nordirland, die den Brexit zuvor blockiert hatte. | |
| Denn einerseits ist Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs – so kann | |
| es keine Staatsgrenze zu Großbritannien haben. Andererseits liegt es auf | |
| der Insel Irland – so kann es keine harte Grenze zur Republik Irland haben. | |
| Für Ersteres treten Nordirlands protestantische Unionisten ein, für | |
| Letzteres die katholischen Republikaner. Der Frieden in Nordirland hängt | |
| davon ab, dass beide zufrieden sind. | |
| Theresa May hatte als britische Premierministerin 2018 den sogenannten | |
| Backstop für Nordirland erfunden – Nordirland bleibt Teil des | |
| EU-Binnenmarktes, was eine harte Grenze in Irland überflüssig macht; und | |
| das gesamte Vereinigte Königreich bleibt Teil des EU-Zollgebiets, auch nach | |
| dem Brexit, was eine Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien | |
| überflüssig macht. | |
| Aber damit hätte Großbritannien nach dem EU-Austritt keine eigene | |
| Außenhandelspolitik gehabt, hätte keine eigenen Handelsverträge schließen | |
| können und wäre an die EU-Außenhandelspolitik gebunden geblieben, ohne | |
| dabei mitreden zu können – die schlechteste aller Welten, bloß wegen | |
| Nordirland, schimpften Mays konservative Kritiker wie etwa Boris Johnson. | |
| ## Die harte Linie von Boris Johnson | |
| Deswegen scheiterte Mays Brexit-Vertrag 2019 mehrmals krachend im | |
| britischen Unterhaus. Als sie die EU um Nachverhandlungen bat, sagte | |
| Brüssel, das ginge nicht. Einen Brexit ohne Vertrag mit der EU, der | |
| sogenannte No-Deal-Brexit, wollte May aber nicht riskieren. In ihrer | |
| eigenen Sackgasse gefangen, trat May schließlich zurück. | |
| Der [2][Brexit-Befürworter Boris Johnson] wurde im Juli 2019 | |
| Premierminister und fuhr eine härtere Linie: Entweder die EU stimmt | |
| Neuverhandlungen zu oder es gibt einen No-Deal-Brexit zum bereits zweimal | |
| verlängerten Ende der EU-Austrittsfrist am 31. Oktober. | |
| Aber das britische Unterhaus, in dem er keine Mehrheit hatte, fiel ihm in | |
| den Rücken: Ende August verabschiedete es ein Gesetz, wonach das Parlament | |
| einen No-Deal-Brexit billigen müsse und die Regierung ansonsten spätestens | |
| am 19. Oktober um eine Verlängerung der Brexit-Frist bitten und jeden von | |
| der EU angebotenen Termin annehmen müsse. | |
| „Nur über meine Leiche“ würde er das tun, schäumte Johnson. Aber sein | |
| Versuch, das Parlament durch Suspendierung des Unterhauses zu umgehen, | |
| scheiterte am obersten Gericht. Daraufhin kam es zum Showdown. Boris | |
| Johnson forderte schnelle Neuwahlen. Johnsons Gegner blockierten das. Sie | |
| machten mobil für einen regelrechten Putsch. Es kursierten im Parlament | |
| Überlegungen, Boris Johnson per Misstrauensvotum zu stürzen, durch eine | |
| Notregierung unter dem Brexit-feindlichen Parlamentspräsidenten John Bercow | |
| zu ersetzen und den Brexit dann zu stoppen. | |
| Johnsons Lager konterte mit Überlegungen, bei einer erzwungenen | |
| Brexit-Verlängerung die EU lahmzulegen, beispielsweise durch Dauerveto | |
| gegen alle EU-Vorhaben und die Nominierung des [3][EU-Feindes Nigel Farage] | |
| als nächstes britisches EU-Kommissionsmitglied. | |
| ## Durchbruch im Wald | |
| Ein Waldspaziergang von Boris Johnson und dem irischen Premierminister Leo | |
| Varadkar nahe Liverpool am 10. Oktober brachte den unerwarteten Durchbruch. | |
| Eine Woche später feierten EU und Großbritannien in Brüssel einen neuen | |
| Brexit-Vertrag – ohne Nordirland-Backstop. Was die EU gegenüber May für | |
| unmöglich erklärt hatte, war Johnson gelungen. | |
| Der Durchbruch bestand darin, das ganze Vereinigte Königreich aus dem | |
| EU-Zollgebiet austreten zu lassen, aber fällige Kontrollen des | |
| Warenverkehrs nicht an der Grenze zwischen der Republik Irland und | |
| Nordirland durchzuführen, sondern an den Häfen zwischen Nordirland und | |
| Großbritannien. | |
| Dass dies eine [4][faktische Zollgrenze zwischen Großbritannien und | |
| Nordirland] bedeutete, wurde vielen erst beim Lesen des Kleingedruckten | |
| klar. Im Grunde war das Protokoll ein semantischer Kunstgriff. Vergeblich | |
| warnten Nordirlands Unionisten davor. Das interessierte in London nicht: | |
| Endlich war ein Ende der Brexit-Krise in Sicht. | |
| Den kuriosen Schlusspunkt setzte das britische Unterhaus. Mit einem | |
| Geschäftsordnungsmanöver legte es am 19. Oktober 2019 den neuen Deal auf | |
| Eis, statt über ihn abzustimmen. Johnson musste nun doch die | |
| Brexit-Verlängerung bei der EU beantragen, die bis Ende Januar 2020 gewährt | |
| wurde. Seine Gegner hofften, bis dahin auch den neuen Deal zu kippen. Aber | |
| nun hatten sie nicht nur die eigene Regierung, sondern auch die EU gegen | |
| sich, die das Brexit-Kapitel endlich abschließen wollte. Am 29. Oktober | |
| schließlich stimmte das Unterhaus für die Auflösung des Parlaments und für | |
| Neuwahlen. | |
| ## Kompromisse scheinen möglich | |
| Der Rest ist Geschichte. Am 12. Dezember 2019 fuhr Johnson einen | |
| Wahltriumph ein. Der [5][Brexit-Deal] war gerettet, am 31. Januar 2020 trat | |
| das Vereinigte Königreich aus der EU aus. Aber das | |
| [6][Nordirland-Protokoll] war noch da. | |
| Seitdem fordert London Nachverhandlungen. Brüssel sagt Nein – aber das | |
| Protokoll sieht in Artikel 13 die Möglichkeit seiner Ersetzung durch eine | |
| neue Vereinbarung vor. Artikel 18 macht seine Gültigkeit außerdem von der | |
| Zustimmung des nordirischen Parlaments abhängig, die erstmals vier Jahre | |
| nach seinem Inkrafttreten einzuholen ist – das wäre Anfang 2024. | |
| Ohnehin ist das Protokoll nie komplett umgesetzt worden. Großbritannien | |
| führt die meisten Warenkontrollen nie durch, die EU drückt beide Augen zu | |
| und hat schon Vorschläge für eine großzügigere [7][Anwendung des | |
| Protokolls] gemacht. Es gibt also Raum für Kompromisse. Vielleicht braucht | |
| es einen neuen Waldspaziergang. | |
| 14 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/… | |
| [2] /EU-Reaktion-auf-Boris-Johnsons-Wahl/!5608592 | |
| [3] /Britischer-Rechtspopulist-tritt-ab/!5756236 | |
| [4] /Politikerin-ueber-Nordirland-Protokoll/!5822052 | |
| [5] /Schwerpunkt-Brexit/!t5313864 | |
| [6] https://ec.europa.eu/info/strategy/relations-non-eu-countries/relations-uni… | |
| [7] https://bills.parliament.uk/bills/3182 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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