# taz.de -- Die Wahrheit: Poesiekartell mit Kettenreimsäge | |
> Deutschlands bestdotierter Preis für komische Lyrik „Der große Dinggang | |
> 2022“ wird vergeben. Ein schillernder Vorbericht. | |
Bild: Goethes Erben stehen wieder bereit, um im sauerländischen Menden preisge… | |
Am kommenden Wochenende findet an zwei Abenden – am Freitag, dem 27. Mai, | |
und am Samstag, dem 28. Mai – in der sauerländischen Metropole Menden ein | |
Poesiewettbewerb der besonderen Art seinen Höhepunkt: „Der große Dinggang�… | |
Der Wettbewerb für komische Lyrik ist vom großen F. W. Bernstein und seinem | |
gleichnamigen Gedicht inspiriert und richtet sich an alle deutschsprachigen | |
Autoren. Er teilt sich auf in einen Jurypreis und einen Publikumspreis, die | |
bei einer öffentlichen Wettbewerbslesung vergeben und gefeiert werden. 2022 | |
gab es 154 Einreichungen, fünf Autoren wurden für die Endrunde ausgewählt | |
und kämpfen nun um den mit 1.000 Euro hochdotierten Preis. Aber wie geht es | |
in der Jury zu, und wie bereiten sich die geheimnisvollen Juroren auf die | |
schwierige Aufgabe vor, das komischste Gedicht des Jahres auszuwählen? Die | |
Wahrheit gibt einen abgrundtiefen Einblick in das poetische Geschehen. | |
„Wo, um alles in der Welt, soll ich um diese Zeit einen vierfach gehobenen | |
und doppelt verschnörkelten Pentameter hernehmen?“ Dichterfürst Prof. Dr. | |
Gsella dreht und wendet sich vor dem großen, golddurchwirkten Spiegel. Die | |
neue schwarze Hornbrille steht ihm ganz ausgezeichnet, und zusammen mit dem | |
Pepita-Jackett verleiht sie seinem Äußeren den seriösen Anstrich von Cary | |
Grant. | |
„Und wozu, um alles in der Welt, brauche ich überhaupt einen vierfach | |
gehobenen und doppelt verschnörkelten Pentameter?“ Der lyrische Kosmopolit | |
lässt sich wieder in den schweren Ohrenledersessel fallen, in dem er auch | |
die Nacht verbracht hat, und seufzt tief. Aus der dritten Schublade seines | |
mächtigen indischen Schreibtisches zieht er ein leicht vergilbtes | |
Manuskript hervor, das er mehr als interessiert betrachtet. Er hat es nie | |
zuvor gesehen. Zutiefst alarmiert betrachtet er es weiter … | |
+++ | |
Der königliche Ruf eines Adlers, der seine Kreise über die zerklüfteten | |
Hamburger Felswände zieht, streicht über das Land und zieht Väterchen | |
Maintz aus seinem efeuumrankten Schlummer. Maintz gurrt wohlig, während er | |
flink aus seinen samtenen Kissen gleitet, um eine Weile in seinem | |
morgendlichen Champagnerbad zu planschen. Mit elegantem Schwung entsteigt | |
er seinem sprudelnden Bad und begibt sich an seine Werkbank im | |
Palmengarten, um noch vor dem Frühstück hurtig mit seiner fein justierten | |
Kettenreimsäge ein paar kunstvolle Verse zu modellieren … | |
+++ | |
Schon beim ersten Amselzwitschern gießt La Stegemann fürsorglich ihr | |
Blumenbeet, zieht mit zwei gepaarten Kadenzen einige widerborstige Daktylen | |
aus dem sperrigen Acker, schreibt liebe Prosakarten an alte Verwandte und | |
meldet sich für einen weiterführenden Lyrikkurs bei der Volkshochschule an | |
… | |
+++ | |
„Zettel! Ein Universum voller Zettel! Überall Zettel …“ Spezialagentin | |
Fischer schreckt hoch. Etwas hat sie in ihrem Celler Refugium aus unruhigen | |
Träumen gerissen, aber sie vermag noch nicht genau zu sagen, was das war. | |
Doch dann fällt es ihr wieder ein. Mit besonnener Eile rafft sie behutsam | |
ihre Agentenutensilien zusammen: den zwölfsilbigen Mikro-Todeskabyldolus, | |
den vollautomatischen vierhebigen Fünfheber, das überaus empfindliche | |
Senarternar und die drolligen Dimeter, die vordergründig verspielt | |
umeinanderpurzeln, aber bei der geringsten Erschütterung mit überzähligen | |
Affixen gnaden- wie wahllos um sich schießen! Spezialagentin Fischer ist | |
bereit! | |
+++ | |
Neblige und betörend nach Lächeln duftende Schwaden ziehen in irisierenden | |
Gespinsten aus verführerischem Dunst und für normale Menschen nicht zu | |
identifizierenden Wohlgerüchen durch die uralten Mauern der mächtigen und | |
weithin sichtbaren Trutzburg, die hoch in den Berghängen des mittleren | |
Südens thront und schon zu Lebzeiten mancher Zeitgenossen eine Legende ist. | |
Selbst die Fledermäuse, die hier umherfliegen, sind von auserlesenem | |
Flügelgeschmack und wenig aufdringlich. | |
Meister Klinque hat die Haube seines Gewandes zurückgeschoben und blickt | |
nachdenklich in den großen, dampfenden Kessel, aus dem er die Zukunft lesen | |
kann. Zwar nicht immer, aber manchmal. Diesmal macht der Kessel aber nicht | |
die geringsten Anstalten, ihm irgendwas zu zeigen. Meister Klinque weiß | |
dennoch, was zu tun ist. Er steigt entschlossen die Stufen zum hohen Turm | |
empor und wirft mit ausladenden Gesten mehrere, einander liebevoll | |
umarmende Reime in den Himmel … | |
+++ | |
Don Neuhaus ist nervös. Don Neuhaus ist verdammt nervös. Mit den | |
Alexandrinern ist nicht zu spaßen. Mit demonstrativem Gähnen lehnt er sich | |
auf seinem Diwan aus kostbarer flämischer Weblyrik zurück und betrachtet | |
unter provozierend gesenkten Lidern die sechs schwer bewaffneten, jambisch | |
alternierenden Alexandriner, die seit drei Stunden sein Büro belagern. Don | |
Neuhaus schießt für einen Sekundenbruchteil die Frage durch den Kopf, ob er | |
sich bei dem Deal mit dem zäsurischen Poesiekartell nicht doch ein bisschen | |
übernommen hat. | |
Der 53-Jährige ist ledig. Noch haben die Alexandriner ihn nicht offen | |
bedroht, doch Don Neuhaus weiß, dass jeder einzelne von ihnen im Ernstfall | |
nicht zögern würde, kurzen Prozess mit ihm, Don Neuhaus, zu machen. Wenn … | |
ja, wenn er, Don Neuhaus, nicht … | |
Don Neuhaus holt sich erst einmal ein Glas mit besten sapphischen Strophen | |
auf ausgesuchten Trochäen aus der Globus-Bar. Dann greift er mit zauberhaft | |
übermütigem Kichern zur Posaune, mit der er einst die Mauern von Jericho | |
hatte einstürzen lassen. Beherzt pustet er hinein. Eine Zeit lang passiert | |
nichts. Doch dann erklingt – zunächst wie aus weiter Ferne, aber immer | |
lauter werdend – ein Grollen, Donnern und Tosen, und die Erde erbebt unter | |
den trappelnden Füßen Abertausender Dichter, die sich ungestüm aus allen | |
Ecken des Reichs aufs Zentrum der lyrischen Verzückung zubewegen. „Der | |
große Dinggang“ kann bewegen … | |
Und so kommt es, dass im Jahr 2022 zum nunmehr dritten Mal „Der Große | |
Dinggang“, der bestdotierte Preis für komische Lyrik, vergeben wird. Die | |
Jurymitglieder sind keine Geringeren als Thomas Gsella, Christian Maintz, | |
Corinna Stegemann, Susanne Fischer, Vincent Klink und Peter P. Neuhaus. Und | |
es geschieht alles frei nach dem schillernden Motto „Wer reimt, hat recht“. | |
23 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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