# taz.de -- Die Wahrheit: Der zornige Melonenkönig | |
> Es ist einmal: das wahre Märchen von einem, der sein bewusstloses Volk | |
> telepathisch revolutionär aus der Knechtschaft führen will. | |
Einst kam der Tag, an dem der Melonenkönig endgültig genug von der | |
Knechtung seines Volkes hatte. Seit er und alle seine Ahnen denken konnten, | |
wurden sie immerzu für extrem fiese Experimente in einem | |
Internet-Video-Kanal missbraucht. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie | |
viele Cousins und Cousinen, Onkels und Tanten, Schwager und | |
Schwippschwager, Großnichten und Neffen, Angeheiratete und leibliche | |
Nichten, entfernte irgendwie Auchdazugehörende und alle möglichen anderen | |
Familienmitglieder schon zum Opfer bösartiger und sinnloser Versuche | |
geworden waren. | |
Wie bringt man eine Melone zum Platzen? Wie viel Druck eines Autoreifens | |
hält eine Melone aus? Welche Anzahl von Gummibändern braucht man, um eine | |
Melone zu sprengen? Was passiert, wenn man Mentos und Cola zeitgleich in | |
eine Melone gießt? Wie gehen Tiger im Zoo mit Melonen um? Was passiert, | |
wenn man eine Melone aus dem fünften Stock auf ein Schrott-Auto auf einem | |
Trampolin wirft? | |
Der Melonenkönig schreckte aus wirren und beängstigenden Träumen auf. Er | |
spürte, dass es an der Zeit war, sein Volk aus der Knechtung zu führen, | |
aber Können vor Lachen und ohne Beine. Das war nämlich das eigentliche | |
Problem: Keine Beine! Hätten er und die Seinen Beine gehabt, wären sie | |
schon alle längst abgehauen und wären nicht immerzu Opfer tumber und | |
gelangweilter Menschen auf einem Internet-Video-Kanal geworden. Aber ohne | |
Beine war es nun mal schwierig. | |
Der Melonenkönig war jetzt schon mehr als hunderttausend Jahre alt und er | |
erinnerte sich, als wäre es erst gestern gewesen, an die Erschaffung der | |
Welt. Schon damals hatte er zu Gott gesagt, „Gott“, hatte er damals schon | |
gesagt, „Gott, dein Werk ist gut, aber du hast vergessen, uns Melonen Beine | |
zu erschaffen. Ohne Beine sind wir Melonen für ümmer dem Schabernack | |
tumber, gelangweilter Menschen ausgesetzt.“ Aber Gott war gerade dabei, | |
einen Apfelkuchen zu pflanzen, und er achtete nicht der Worte des weisen | |
Melonenkönigs. | |
## Leider kein Puploch | |
Der weise Melonenkönig hätte sich jetzt gerne geräkelt, aber er hatte ja | |
auch keine Arme, was das Räkeln schwierig gestaltete. Im Innern rumorten | |
seine Kerne. Ach, wie gerne hätte er ein Puploch gehabt, um einmal richtig | |
pupen zu können, aber auch das hatte Gott damals vergessen. Hätte der | |
Melonenkönig einen Kopf gehabt, dann hätte er diesen jetzt unwirsch | |
geschüttelt. | |
Was war noch mal der Anfangsgedanke? Ach ja, sein Volk aus der Knechtschaft | |
führen. Der Melonenkönig hatte sich nicht ausgesucht, ein Melonenkönig zu | |
sein. Er wäre lieber ein Schäfer gewesen, der friedlich mit zweihundert | |
Schafen, die allesamt alle Beine und Köpfe hätten, auf einer Wiese | |
herumlag. Oder er hätte sich auch vorstellen können, Dozent an einer | |
Pädagogischen Hochschule zu sein. Allein bei dem Gedanken an | |
Putzmittelgeruch, Oberlichtprojektoren, Flipcharts und umgedrehte Stühle | |
erfasste ihn eine Sehnsucht, die ihresgleichen suchte. | |
Aber er lag nun hier. Als oberste Melone auf einem Melonenhaufen im | |
Supermarkt. Seine Untertanen waren samt und sonders blöd. Er hatte | |
versucht, ihnen telepathisch einen Revolutionsgedanken einzupflanzen, doch | |
das war nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Es war, als ob die Untertanen | |
allesamt kein Bewusstsein hätten. War er denn herrgottnochmal die einzige | |
Melone auf der Welt, die sich etwas mehr vom Leben erhoffte, als auf einem | |
Stapel oder Haufen herumzuliegen? Seine Gedanken schweiften zurück … | |
Als er noch jung war und in saftiger Erde gedieh, als er gerade erst ein | |
zartes Grün entwickelte und sein frisches Leben ein einziges, glückliches | |
Kichern war, als Frau Kartoffel und Herr Radieschen ihm allerlei Anlass zu | |
jugendfrohem Spott boten und sich die Tomaten vom feindlichen Feld | |
gegenüber immer wieder als Zielscheiben für gedankliche Mutproben erwiesen, | |
als er, der Melonenkönig, sich selbst gekrönt hatte, wohl wissend, dass es | |
niemals eine bessere und stattlichere Melone als ihn geben würde, und als | |
die Welt golden, glitzernd bunt und unbeschwert war, tja, da hatte ihm | |
alles gehört. Sein Blick – er konnte blicken, denn er war der Melonenkönig | |
– schweifte. Dann wurde der Melonenkönig müde, er schlief ein und begann zu | |
träumen: | |
## Tanzende Nelken in elegantem Tanz | |
Irisierende Musik und tanzende Nelken hüllten ihn in einen bestickten | |
Überzug luftigster Freude. Er hatte Arme, Beine und sogar einen Kopf! Die | |
verwehenden Bilder blassrosiger vorbeifliegender Ballettschuhe, kunstvoller | |
Seidenschleifen und klingender Champagnergläser umschwärmten seine | |
Gedanken. Die zart duftenden Nelken zogen ihn in ihre Mitte und unterwiesen | |
ihn in elegantem Tanz. | |
Der Melonenkönig wachte auf und schüttelte sich gehörig. Natürlich nur in | |
Gedanken, denn richtig schütteln konnte er sich ja allein nicht. Da | |
passierte das, was sich der Melonenkönig selbst in seinen allerschlimmsten | |
Albträumen nur unzureichend ausgemalt hatte: Er wurde gekauft! Von einer | |
blonden Frau, die eigentlich ganz nett aussah, aber er wusste trotzdem, | |
dass sein Schicksal besiegelt war. Man würde ihn aufbrechen, ausweiden und | |
auffressen. Er wurde erstaunlicherweise recht sanft und behutsam in einen | |
mit weichem Damast ausgekleideten Korb gelegt. | |
Die anderen Lebensmittel im Korb schienen sich auch recht wohl zu fühlen, | |
der Melonenkönig schnappte immer wieder Wortfetzen auf: „Hach, was haben | |
wir für ein Glück!“, jauchzten die Erbsen, und „Danke Gott, dass die sch�… | |
blonde Frau uns gekauft hat!“ jubilierten die Schweinenackensteaks, während | |
die Mohrrüben und Rapunzeln Tränen des vollkommenen Glücks weinten. | |
## Gott der Herr spricht | |
Der Melonenkönig verhielt sich unterdessen still, denn er wusste nicht | |
recht, wie ihm hier geschah. Erschöpft sank er abermals in einen tiefen | |
Schlaf und Gott, der Herr, erschien ihm und sprach zu ihm: „Höre, | |
Melonenkönig. Hätte ich dir bei der Erschaffung meiner Welt Beine gegeben, | |
dann wärest du hastenichgesehn davon gerannt und wärest niemals in dem | |
weichen Korb der schönen blonden Frau geraten. Danke mir also auf Knien für | |
dein Schicksal. Haha, war nur Spaß!“ | |
Da wachte der Melonenkönig auf und zürnte Gott, wie er Gott noch nie zuvor | |
gezürnt hatte. | |
Und hier endet die Geschichte des zornigen Melonenkönigs. Schlaft ihr alle | |
recht wohl in dem Wissen, dass Gott der Herr immer am längeren Hebel sitzt. | |
Morgen erzähle ich euch dann die Geschichte, wie Gott der Herr von seinen | |
Eltern auf ein Internat geschickt wurde. Ich habe euch sehr lieb. Morgen | |
gibt es Lasagne. Gute Nacht. | |
22 Jan 2022 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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