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# taz.de -- Ausgrabungen am Wochenende: Sisyphos beim Müllsammeln
> Jedes Jahr machen wir Frühjahrsputz am Ufer der Havel. Jedes Jahr liegt
> da der gleiche Plastikmüll. Fragen eines auflesenden Müllwerkers.
Bild: Das Antropozän zum Anfassen: Plastikmüll findet man allerorten
Die Sonne brennt mir auf den Scheitel, das Wasser gluckst an den
Gummistiefeln, der Uferschlamm riecht faulig, die Vögel twittern in den
Bäumen. Und ich muss an Pater Fischer denken, meinen alten Religionslehrer.
Der hat uns vor knapp 40 Jahren mit Albert Camus traktiert: Der Mythos von
Sisyphos. Das Leben im und mit dem Absurden.
So stellt sich auch dieser Samstagvormittag dar. Wie jedes Jahr im Frühling
sind wir mit Freundinnen und Freunden losgezogen, um einen Uferstreifen der
Havel in Berlin [1][vom Müll zu befreien]. Am Schildhorn klettern wir über
die Zäune, ziehen Handschuhe an und nehmen die Mülltüten in die Hand. Und
dann sammeln wir, was die Gezeiten des Lebens hier so anspülen:
Plastiktüten, Milky-Way-Verpackungen, alte Schuhe, jede Menge Feuerzeuge,
Spritzen, Vodkaflaschen, Personalausweise, Strohhalme, Paddel, Planen,
Bierbänke.
## Plastikfetzen, Spritzen, Vodkaflaschen als Teil der Natur
Wir machen das seit 11 Jahren und die großen Brocken sind inzwischen weg.
Aber auch unsere ursprüngliche Idee, hier ein Stück Natur zu „säubern“, …
inzwischen auf den Müllhaufen geflogen: Man kann die größeren Plastikteile
einsammeln. Aber je tiefer man gräbt, desto deutlicher wird, dass dieses
Problem nie wieder verschwindet: Tief in den Boden eingegraben haben sich
die Fetzen von Plastiktüten, die Reste von Verpackungen, halbe Filzstifte,
aufgeplatzte Fläschchen. An einer Stelle hat eine Plastikplane sich so
kunstvoll in den Sandstrand drapiert, dass sie das ganze Ufer stabilisiert.
Das ist das Leben mit dem Absurden: Alle wollen selbstverständlich und
natürlich „die Umwelt schützen“ und vermüllen sie durch ihren
Wohlstandsdreck, auf den sie nicht verzichten können. Das ist nicht ganz
das, was dem großen [2][Existenzialisten Albert Camus] 1942 vorschwebte,
aber ähnlich ausweglos.
Wenn ich als kleiner Müllwerker mit den undichten Gummistiefeln bis zum
Knöchel im Schlamm stecke und an einer Chipstüte zerre, denke ich daran,
dass es den Plastikmüll inzwischen auch auf den entlegensten Südseeinseln
und an den Polgebieten gibt. Dieser verschlammte Bierbecher hier ist das
Antropozän zum Anfassen. Camus würde sagen: Siysphos rollt den Stein immer
wieder auf den Berg. Kaum ist er oben, rollt der Stein runter, es geht
wieder los. Wir schleppen graue Müllsäcke aus der Uferzone. Nächstes Jahr
geht es wieder los.
Pater Fischer hat uns damals eingebläut: Dem Absurden kann man sich nicht
entziehen. Das sehe ich, wenn ich mich hier am Ufer umblicke. Man müsse es
erkennen und akzeptieren. So existenzialistisch bin ich nach 11 Jahren
inzwischen auch. Dann folgt bei Camus die Revolte des Aufbegehrens gegen
die Zustände. So definiert sich, etwas pathetisch überhöht, die Arbeit
eines Umweltjournalisten.
Aber Sisyphos ist bei Camus „Herr seiner Tage“. Es gibt für ihn kein
übergeordnetes Schicksal, die Handlungen, die sein Schicksal werden, sind
von ihm selbst verantwortet. Für Camus ist das ein Lichtblick, für uns
leider das Eingeständins des Versagens. Denn all der Plastikscheiß hier ist
von Menschen erdacht, produziert und achtlos bis mutwillig in die Gegend
gefeuert worden. Unser Schicksal ist es, dass wir unser Schicksal selbst in
der Hand haben.
Und trotzdem: Wenn am Schildhorn die Sonne scheint, wenn das frische Grün
aus dem Boden sprießt und ich in quietschenden Gummistiefeln den Waldweg
entlangschlappe, bin ich fröhlich. Trotz der Plastikflut bricht die Natur
immer wieder durch: Eine gefällte Monster-Eiche sieht aus wie ein
Amazonas-Riese. überall an unserem Ufer werden seit ein paar Jahren die
Bäume fleißig vom Biber angenagt. Die Büsche und Weiden wachsen schneller
als die chinesische Volkswirtschaft. Wir müssen uns Sisyphos als
glücklichen Menschen vorstellen.
6 May 2022
## LINKS
[1] /Tuebinger-Einwegsteuer-gekippt/!5841752
[2] /Die-Pest-am-Deutschen-Theater-Berlin/!5687965
## AUTOREN
Bernhard Pötter
## TAGS
Müll
Schwerpunkt Klimawandel
Wir retten die Welt
Natur
Zero Waste
Verpackungen
Schwerpunkt Fridays For Future
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