# taz.de -- Wahlkampf in Schleswig-Holstein: Tariftreuloses Land | |
> Dank der Jamaika-Koalition werden öffentliche Aufträge an Firmen | |
> vergeben, die nicht nach Tarif zahlen. SPD, Grüne und SSW wollen das | |
> zurückdrehen. | |
Bild: Öffentliche Aufträge sind vielfältig: Auch Brotbacken für die Polizei | |
HAMBURG taz | Für CDU und FDP war es der Heilsbringer für den Mittelstand; | |
für die SPD dagegen der pure sozialpolitische Schock: 2019 ermöglichte die | |
amtierende Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein die Vergabe von | |
öffentlichen Aufträgen auch an Unternehmen, die nicht nach Tarif zahlen. | |
Nun wird im laufenden Wahlkampf wieder um den Sinn sozialpolitischer | |
Auflagen bei der öffentlichen Vergabe gestritten. Denn Aufträge zu vergeben | |
hat das Land viele – und damit auch Einfluss. Im Moment werden | |
beispielsweise Firmen gesucht, die Radwege instand setzen, neue Lampen im | |
Amtsgericht Kiel installieren oder Brötchen für die Polizeiküche | |
Kiebitzhörn backen. | |
Stolz waren SPD, aber auch die Grünen, als sie in ihrer gemeinsamen | |
Koalition mit dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) 2013 eine auch im | |
bundesweiten Vergleich weitgehende Reform verabschiedeten: Das Tariftreue- | |
und Vergabegesetz schrieb die Berücksichtigung sozialer und ökologischer | |
Kriterien in Ausschreibungen vor. Danach durften nur noch Firmen den | |
Zuschlag bekommen, die ihre Angestellten tarifgerecht entlohnen oder bei | |
fehlendem Tarifvertrag einen vorgegebenen Mindestlohn bezahlen. Gehofft | |
hatten die Koalitionäre, dass so mehr Unternehmen nach Tarif zahlen. | |
Denn der Umfang der öffentlichen Ausschreibungen beträgt im Land jährlich | |
rund 14 Milliarden Euro. Das ist immerhin rund ein Sechstel des | |
Bruttoinlandsprodukts im Norden. Und im westdeutschen Vergleich liegt | |
Schleswig-Holstein bei den Durchschnittseinkommen weit unten. „Hier im Land | |
gibt es kaum Industrie, die für hohe Löhne sorgt“, sagt der scheidende | |
SPD-Landtagsabgeordnete Wolfgang Baasch. | |
Deshalb sei es umso wichtiger, über die öffentliche Vergabe von Aufträgen | |
dafür zu sorgen, dass in mehr Betrieben nach Tarif entlohnt wird. Baasch | |
hatte seinerzeit an dem Gesetz mitgearbeitet. | |
## CDU und FDP wollten „entbürokratisieren“ | |
Doch lange währte die vorgegebene Tariftreue für das Land und seine | |
Kommunen nicht: CDU, Grüne und FDP hatten sich im Koalitionsvertrag nach | |
der vergangenen Wahl darauf verständigt, den Mittelstand von bürokratischen | |
Vorgaben zu entlasten und auf „vergabefremde Kriterien“ zu verzichten. 2019 | |
trat die Reform in Kraft – nur der Mindestlohn für in Deutschland | |
geleistete Arbeit blieb erhalten. Der ist ohnehin gesetzlich | |
vorgeschrieben. | |
Vor allem die SPD tobte danach: Es sei das „arbeitnehmerfeindlichste und | |
rückwärtsgewandteste Vergabegesetz in der Bundesrepublik Deutschland“. Die | |
CDU entgegnete, nun das „mittelstandsfreundlichste Bundesland“ zu werden. | |
Nur öffentliche Aufträge im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs | |
unterliegen allerdings weiterhin der Tariftreue. | |
Besonders die Gewerkschaften machen sich im laufenden Wahlkampf dafür | |
stark, die Reform von 2019 zurückzunehmen. „Wir brauchen dringend einen | |
beschäftigungspolitischen Neustart“, sagt Laura Pooth, Vorsitzende des | |
Deutschen Gewerkschaftsbundes im Norden (DGB Nord). Nur die Vergabe von | |
Aufträgen an Unternehmen mit Tarifbindung würde vor Lohndumping schützen. | |
„Deshalb brauchen wir ein echtes Tariftreuegesetz“, sagt Pooth. | |
Das Fazit zweieinhalb Jahre nach der letzten Reform fällt dementsprechend | |
unterschiedlich aus: SPD, SSW und Linke wollen das Gesetz nach der Wahl | |
erneut reformieren. Wirtschaftsminister Bernd Buchholz (FDP) dagegen hält | |
die Reform für einen Erfolg: „Davon profitieren vor allem kleine und | |
mittlere Unternehmen, weil diese nach dem alten Vergaberecht durch die | |
hohen Hürden faktisch ausgeschlossen waren von öffentlichen Vergaben.“ Eine | |
„Rolle rückwärts“ werde es mit der FDP nach der Wahl nicht geben. | |
## Grüne hatten sich nicht gesträubt | |
Die CDU zeigt sich auch zufrieden mit dem bisher Geleisteten: Ändern am | |
Vergabegesetz will sie laut ihrem Wahlprogramm nichts; stattdessen erfreut | |
sie sich daran, die Streichung von „vergabefremden Kriterien“ durchgesetzt | |
und die Vergabeverfahren „erheblich vereinfacht und entbürokratisiert“ zu | |
haben. | |
Tatsächlich kann ein klares Fazit nur schwerlich gezogen werden: Die Zahl | |
der Angestellten, die nach Tarif bezahlt werden, ist im Land seit 2013 | |
gesunken. Andererseits kann auch das FDP-geführte Wirtschaftsministerium | |
nicht mit Zahlen nachweisen, ob sich die Reform positiv ausgewirkt hat. Das | |
sei kaum messbar, sagt ein Sprecher. Vielmehr sei das Gesetz vor der Reform | |
ein Feigenblatt vor allem der SPD gewesen, um das Gewissen zu beruhigen. | |
So vehement die Positionen auf beiden Seiten vertreten werden, von den | |
Grünen ist nicht zu erwarten, dass sie für die Reform kämpfen, sollten sie | |
erneut eine Jamaika-Koalition eingehen. Sie waren 2019 vom Vorhaben ihrer | |
Koalition zwar nicht begeistert – bis zum Äußersten hatten sie sich aber | |
auch nicht dagegen gesträubt. | |
Im Wahlprogramm für die kommende Legislatur versprechen sie aber, ein | |
„wirksames Tariftreue- und Vergabegesetz mit einem Vergabemindestlohn von | |
mindestens 13,50 Euro auf den Weg zu bringen“. | |
23 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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