# taz.de -- Verfahren gegen Flüchtlingshelfer: Schikane gegen Engagement | |
> Flüchtlingshelfer Andrea Costa steht in Italien als Schleuser vor | |
> Gericht. Er hat für Afrikaner getan, wofür er bei Ukrainern gefeiert | |
> wird. | |
Bild: Für Italiens Staatsanwaltschaft ein Krimineller: Baobab-Experience-Chef … | |
ROM taz | In den Augen der Staatsanwaltschaft ist Andrea Costa ein | |
Schwerverbrecher, ein Schleuser, der im gerade in Rom gegen ihn laufenden | |
Prozess wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung angeklagt ist und deshalb | |
eine Haftstrafe zwischen sechseinhalb und achtzehn Jahren riskiert. | |
Seit 2015 leitet der Mittfünfziger, im bürgerlichen Leben als Glaser tätig, | |
die Organisation [1][Baobab Experience], die sich um in Rom gestrandete | |
Flüchtlinge kümmert, sie mit Schlafplätzen und Lebensmitteln versorgt. | |
Zunächst operierte die NGO an einem festen Ort in einer von ihr besetzten | |
ehemaligen Flüchtlingsunterkunft. Die wurde jedoch 2016 auf Anordnung der | |
Stadt Rom geräumt. | |
Seitdem stellt Baobab Experience den Migrant*innen Zelte und Schlafsäcke | |
auf wechselnden Plätzen gleich hinter dem großen Bahnhof Rom-Tiburtina zur | |
Verfügung, unter mehr als prekären Bedingungen, in der Sommerhitze genauso | |
wie an kalten, regnerischen Tagen. | |
Mehr als 95.000 Flüchtlinge wurden so in den letzten sieben Jahren betreut. | |
Die meisten von ihnen kommen über die Mittelmeerroute nach Süditalien und | |
wollen in andere europäische Länder weiterreisen. Ihnen einen Schlafplatz, | |
eine warme Mahlzeit, womöglich medizinische Hilfe und Rechtsberatung zur | |
Verfügung zu stellen, ist auch nach italienischem Recht kein Verbrechen. | |
## Delikt: Busfahrscheine zur Weiterreise | |
Doch die Stadt Rom ebenso wie die Polizei reagierten auf den humanitären | |
Einsatz der ausschließlich über Geld- und Sachspenden finanzierten NGO mit | |
Schikane. Etwa 40-mal wurden die Zeltlager in den letzten sieben Jahren | |
geräumt, wurden Zelte und Schlafsäcke konfisziert. | |
Der Staatsanwaltschaft war das jedoch nicht genug. Sie wirft Andrea Costa | |
vor, im Oktober 2016 Busfahrkarten für acht Sudanesen und einen Flüchtling | |
aus dem Tschad gekauft zu haben, damit sie ins nahe der französischen | |
Grenze gelegene norditalienische Ventimiglia weiterreisen konnten. | |
Monatelang wurde Costas Telefon damals abgehört, und welch großes Rad er | |
angeblich als Schleuser drehte, zeigte sich daran, dass die Ermittlungen | |
gegen ihn der Antimafia-Abteilung der Staatsanwaltschaft übertragen wurden. | |
Das Ergebnis war der jetzt laufende Prozess. Costa wundert sich gleich | |
zweifach. „Normalerweise nehmen Schleuser Geld von den Flüchtlingen, wir | |
dagegen haben ihnen mit ein paar Euro für Fahrkarten ausgeholfen“, hält er | |
fest. | |
## Eine lange Reihe von Kriminalisierungsversuchen | |
Mehr noch: Baobab Experience habe in keinem einzigen Fall an irregulären | |
Grenzübertritten mitgewirkt, sondern bloß den Flüchtlingen eine Reise auf | |
italienischem Territorium ermöglicht, deren Ziel das offiziell auf | |
staatlichen Auftrag vom Roten Kreuz betriebene Flüchtlingscamp in | |
Ventimiglia war. | |
Und noch eines wundert Costa. „Wir waren vor einigen Tagen an der Grenze | |
der Ukraine zu Moldawien, um dort Kriegsflüchtlingen zu helfen“, berichtet | |
er, „dafür erhalten wir uneingeschränkten Applaus“. Eben jener Applaus | |
blieb aus, als Baobab Experience den neun Männern aus Sudan und dem Tschad | |
half – Kriegsflüchtlinge genauso wie die Menschen aus der Ukraine. Ihnen | |
beigestanden zu haben, bescherte Costa den Prozess. | |
Das Verfahren fügt sich in eine lange Kette von Versuchen italienischer | |
Staatsanwaltschaften, mit juristischen Mitteln die Arbeit von | |
Flüchtlingshelfer*innen zu kriminalisieren. Schon im Jahr 2004 hatte | |
die deutsche NGO [2][Cap Anamur] die ganze Härte des italienischen Gesetzes | |
zu spüren bekommen, als ihr Schiff 37 Flüchtlinge in Sizilien anlandete. | |
Damals wurden der Cap Anamur-Chef [3][Elias Bierdel], der Kapitän und der | |
Erste Offizier zunächst in Haft genommen, wurden die 37 Afrikaner umgehend | |
abgeschoben, wurde das Schiff auf Jahre beschlagnahmt. Am Ende standen | |
Freisprüche und die Freigabe des Schiffs – dennoch hatte die Strategie der | |
massiven Behinderung der Flüchtlingsrettung funktioniert. | |
Nach gleichem Muster gingen die Justiz und die Regierung dann seit 2016 | |
immer wieder mit Schiffsbeschlagnahmungen und der Eröffnung von Verfahren | |
gegen jene NGOs vor, die mit ihren Schiffen im Mittelmeer unterwegs sind. | |
Internationales Aufsehen erregte der Fall der „Sea Watch“, deren Kapitänin | |
[4][Carola Rackete] im Juni 2019 in Haft genommen worden war. Auch in ihrem | |
Fall lösten sich die Vorwürfe in Luft auf. | |
Auf eine ähnliche Entwicklung hofft jetzt auch Andrea Costa. Am 3. Mai | |
werden die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung ihre Plädoyers halten, | |
noch am gleichen Tag fällt womöglich das Urteil. | |
3 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://baobabexperience.org/ | |
[2] /Fluechtlingsschiff-Cap-Anamur/!5039608 | |
[3] /Elias-Bierdel-ueber-Fluechtlingsrettung/!5057177 | |
[4] /Kapitaenin-Carola-Rackete/!5609301 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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