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# taz.de -- Expertin über Nerds: „Der Nerd war immer schillernd“
> Der Nerd ist unsozial, technikversessen und trägt dicke Brillen, sagt
> das Vorurteil. Dass in ihm auch ein Künstler steckt, zeigt Annekathrin
> Kohout.
Bild: Hat den Nerd analysiert: Annekathrin Kohout
taz: Frau Kohout, was ist ein Nerd?
Annekathrin Kohout: Der Nerd ist eine Figur, die eine bestimmte Begabung
hat oder einer bestimmten Leidenschaft überdurchschnittlich oft oder
intensiv nachgeht.
Das klingt nach einer sehr offenen Definition. Eigentlich verbindet man mit
dem Nerd doch immer etwas Technisches. Kann ein Nerd auch ein Künstler
sein?
Ja, er kann es. Ich bin auf das Thema gekommen, weil befreundete
Künstler:innen angefangen haben, sich als Nerds zu bezeichnen. Da habe
ich mich gefragt, ob wir heutzutage noch immer mit dem Nerd eine
überdurchschnittliche Technikaffinität verbinden oder ob sich die Figur
nicht davon gelöst hat. Mit dem Nerd verbindet sich lange schon eine
gewisse Genieästhetik. Ein Buch, was mich sehr geprägt hat, ist „Die
Legende vom Künstler“ von Ernst Kris und Otto Kurz. Sie beschreiben anhand
von Künstlerbiografien, welche Narrative mit dem Künstler- und Geniebegriff
verbunden sind. Genau dieselben Motive tauchen später in den Biografien von
Computernerds wie Steve Jobs auf; dass man nicht durch Übung zum Nerd
werden kann, sondern schon in der Kindheit eine Begabung oder Vision hatte.
Ich glaube, dass der Nerd für das 20. Jahrhundert eine ähnliche Figur ist
wie das Genie für die Romantik, für das 18. Jahrhundert. Er ist eine Art
Künstlerfigur, nur eben nicht für das klassische Bildungsbürgertum, sondern
für das digitale Bildungsbürgertum, nicht High Culture, aber High
Technology.
Betrachtet man den Nerd als Figur der Popkultur, ist er häufig männlich,
weiß, misogyn, konservativ. Hat er als Sozialfigur nicht ausgedient?
Ich glaube, die Sozialfigur Nerd ist nicht so flexibel, dass man sie an die
gegenwärtigen Umstände anpassen kann. Der Nerd diente dazu, sowohl die
positiven wie die negativen Seiten der Technikbegeisterung zu zeigen, und
diese Funktion hat er eigentlich eingebüßt. In den 1980er Jahren war zum
Beispiel weit verbreitet die Angst vor Hackern, die vielleicht einen
atomaren Krieg auslösen. Heute haben wir keine Angst mehr vor Hacker-Nerds,
sondern vor unberechenbaren Diktatoren, die einen großen roten Knopf
drücken.
Warum gibt es eigentlich so wenige weibliche Nerds?
Wofür der Nerd lange Zeit stand, war Individualität. Das hat viel damit zu
tun, dass er eine Außenseiterfigur ist. In Filmen wurde der Nerd immer als
Opfer stilisiert, das heißt, er wurde auf einer ähnlichen Ebene betrachtet
wie andere Minderheiten. Und das, obwohl weiße Jungs und Männer faktisch
natürlich keine Minderheiten sind. Frauen und auch People of Color haben
versucht, diese Sozialfigur zu verändern oder sie zu dekonstruieren, doch
das hat nie wirklich geklappt. Außerdem glaube ich, dass für unsere
Gesellschaft Geniefiguren im Allgemeinen nicht mehr so interessant sind.
Wir leben in einer Zeit, in der man viel mehr über Solidarität, über
Kollektivität und Empathie spricht.
Sie sagten, der Nerd ist eine Außenseiterfigur. Wie passt das zusammen mit
der Genese des Silicon-Valley-Hypes, der ja von Computernerds geschaffen
wurde?
Der Silicon-Valley-Nerd kam in den 1960er Jahren auf, als an der
US-Westküste eine Hackerkultur auf eine Hippie-Gegenkultur gestoßen ist,
die diese besondere Zwischenfigur, eine kreative Variante des Nerds,
hervorgebracht hat. Sie ist einerseits entstanden aus einem
kapitalismuskritischen Geist, andererseits ganz im Geiste des Kapitalismus.
Für mich ist Steve Jobs jemand, der diesen Widerspruch auf interessante
Weise verkörpert hat. Er unterscheidet sich von anderen Hippies, weil er
„das System“ nicht von außen, sondern von innen heraus verändern wollte.
Später wurde der Nerd von der Massenkultur vereinnahmt und fing an, in
neuen Bereichen eine Rolle zu spielen, etwa in der Lifestyle- und
Modeindustrie.
Sind solche Erfolgsgeschichten von einstigen Nerds wie Steve Jobs oder Bill
Gates der Grund, warum Nerds zu Identifikationsfiguren geworden sind?
Ich glaube schon. Der Nerd an sich ist keine rein negative Figur, sondern
war immer schon schillernd. Es gibt Studien, die ergaben, dass
Zuschauer:innen von Teenagerfilmen und -serien sich viel mehr mit den
Nerds identifizieren als beispielsweise mit den populären Figuren wie den
Sportlern. Deswegen funktioniert das Motiv der sogenannten „Rache des
Nerds“ ja so gut.
In Ihrem Buch untersuchen Sie viele Serien und Filme, die als wenig
anspruchsvoll gelten. Kann man den Nerd ohne Populärkultur überhaupt
verstehen?
Nein, das kann man nicht. Der Nerd kommt zwar auch in komplexeren
Filmproduktionen oder der Hochliteratur vor; wenn man sich die Bücher von
Michel Houellebecq anschaut etwa oder die [1][von Sibylle Berg]. Ich würde
aber sagen, das ist zweitrangig, denn sie beziehen sich bereits auf die
Figur aus der Populärkultur. Das macht die wissenschaftliche Untersuchung
natürlich schwieriger. Man neigt immer dazu, ganz viel entschlüsseln zu
wollen. Wenn zum Beispiel Nerds auf einem Filmcover so angeordnet sind wie
das Bild der Sixtinischen Madonna, muss man akzeptieren, dass das keine
tiefere Bedeutung hat. Es appelliert einfach nur an unser visuelles
Gedächtnis.
Sie schreiben an einer Stelle in Ihrem Buch, dass der Nerd Ausdruck einer
gewünschten Grenzauflösung zwischen Hoch- und Populärkultur ist. Warum
wünscht man sich diese Auflösung?
Mit der Hochkultur grenzt man sich nicht nur vom Mainstream, sondern auch
von bestimmten Personengruppen ab. Das hat oft auch etwas
Diskriminierendes; wenn man sagt, bestimmte Kulturformen, bestimmte Filme
und Serien seien zu „einfach“, sind meistens auch bestimmte Personengruppen
mitgemeint, die weniger Ansprüche besäßen als andere. Der Nerd steht für
Popkulturenthusiasmus, für die Liebe zu Comics oder Videospielen, er steht
für eine Auseinandersetzung mit der Populärkultur, die durchaus
kennerschaftlich ist. Am Nerd zeigt sich, dass trotz des Konsums eines
weniger komplexen Werks nicht der Rezipient selbst einfach oder weniger
intelligent ist. Vielleicht bezeichnen sich Künstler auch deshalb gerne als
Nerd, um zu signalisieren: ich beschäftige mich nicht nur mit Theorie,
sondern auch mit Alltagswelten oder der populären Kultur, mit Filmen oder
Serien.
Ist der Nerd unpolitisch?
Ich würde sagen, die Figur wird sich von Communitys angeeignet, die man
nicht mehr unpolitisch nennen kann, zum Beispiel die [2][sogenannten
Incels]. In den 1950er Jahren ist der Nerd aus dem Spießer hervorgegangen,
aus einer Figur, der man konservative Werte nachsagt und die sich von der
Jugendkultur als Gegenkultur unterscheidet. Und eigentlich hat der Nerd
diese Seite nie verloren. Ich merke in Gesprächen immer wieder, das andere
es sehr überraschend finden, dass der Nerd eigentlich auch unzeitgemäße,
patriarchale Muster in sich trägt.
26 Apr 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Julia Hubernagel
## TAGS
Kulturwissenschaft
Populärkultur
Technik
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Protest
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